zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2024

[2024] Ausgabe 8 Julia Kadel [2024]Ausgabe 8 So schön bunt The Shape of Jazz to Come Berge versetzen Der Raum macht die Musik RISIKO!

3 Vorwort Peter Materna 4 Intro Terry Lennnox: Risiko Wahrheit/Realität/Zukunft 10 So schön bunt Ralf Dombrowski wirft einen Blick auf die Geschichte des Hörens und Bewertens 14 Für Elise Über das kollaborative Ansteuern von Risiken Christopher Dell 18 Wie ein Countdown beim Raketenstart Olaf Rupp im Gespräch mit Ulrich Stock 20 To Drake And Not To Drake Wolf Kampmann über Gina Schwarz‘ musikalische Auseinandersetzung mit Nick Drake 22 Wie klingt der Jazz der Zukunft? Bettina Bohle 26 The Shape of Jazz to Come Maxi Broecking über neue Entdeckungen beim Jazzfest Bonn 30 Vom Wald bis zur Bühne Monika Roscher im Gespräch mit Fabian Junge 33 Jazzfest Bonn digital 34 Der Raum macht die Musik Konzerterfahrungen zwischen Ambiente, Akustik und Transzendenz Tomy Brautschek 38 Ohne Netz und doppelten Boden Stefan Franzen über Richard Galliano 40 Berge versetzen Jazz und improvisierte Musik aus Skandinavien sind gleichermaßen authentisch wie erfolgreich Martin Laurentius 43 Grüne Klänge Knauber als Klimasponsor 44 Die Essenz eines Songs Rebekka Bakken im Interview 47 Musik zum Mitnehmen Aktuelle Alben der Musiker*innen des Jazzfest Bonn 48 Hinweise und Impressum 49 Wir sagen Danke! Unsere Sponsoren und Partner Programmübersicht 50-61 Programm mit Kurzinfos 62 Rätselhafter Jazz Birgit Einert Liebe Freund*innen des Jazzfest Bonn, gehen Sie gerne auf neuen Wegen? Wenn ja, dann sind Sie vermutlich ein risikofreudiger Mensch. Etwas, das Sie mit vielen der Künstler*innen gemein haben, die beim Jazzfest Bonn 2024 auftreten. „Risiko“ ist das Leitthema der 8. Ausgabe des Jazzfest-BonnMagazins zettbe:. In Essays, Interviews und Portraits geht es um Risiken in der Musik und bei den Lebensentscheidungen unserer Künstler*innen, aber auch um Ihr Risiko als Zuhörende. Ja, natürlich ist auch ein Konzertbesuch ein Risiko! Im schlimmsten Fall gefällt’s einem nicht. Aber: Risiken bergen Chancen. Wer sich auf die Musik einlässt, wird aus dem Alltag entführt, berührt und begeistert. Um es mit Monika Roscher zu sagen, die wir interviewt haben: „Es gibt auf jeden Fall was zu erleben.“ Improvisation und das Ansteuern von offenen Situationen mit unbestimmtem Ausgang sind typisch für die Musik, die laut der Süddeutschen Zeitung mit dem Wort „Jazz“ immer unzureichender beschrieben ist. Unzureichend, weil in der blühenden Vielfalt der Jazzszene die üblichen Genrezuschreibungen zunehmend ihre Gültigkeit verlieren, ähnlich wie viele unserer gesellschaftlichen Gewissheiten. Ich finde, damit ist gerade diese Musik der passende Soundtrack für unser postmodernes Zeitalter der Unbestimmtheiten. Sie zeigt uns mit der ihr immanenten Freude an Risiko, Kooperation und Ambiguität einen Weg auf, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, ohne der Verführung populistischer Verengungen und der ignoranten Vereinfachung eines schwarz-weißen Schubladendenkens anheim zu fallen. Das Jazzfest Bonn besteht mittlerweile seit 15 Jahren. Anlass für uns, in unserem Programm vor allem nach vorn zu blicken. Zum Beispiel mit dem hochtalentierten Bundesjazzorchester mit seiner Zukunftsmusik. Oder Sera Kalo, die mit futuristischen Sounds eine neue Generation für den Jazz begeistert. Ganz zu schweigen von den virtuosen Genre-Sprengerinnen Olga Reznichenko und Mirna Bogdanović, dem Improvisationskünstler Olaf Rupp, dem Latin-Jazz-Innovator Harold López-Nussa oder der soulig-rockigen LiV Warfield – es gibt wieder jede Menge neue und ungehörte Musik zu entdecken. In unserem Jubiläumsjahr empfinde ich große Dankbarkeit. Ohne unsere Künstler*innen, Sponsoren und Förderer und nicht zuletzt ohne Sie, liebe Konzertbesucher*innen, wäre das Jazzfest Bonn nicht zu dem geworden, was es ist: Eine Institution im Bonner Kulturleben und ein international bedeutendes Festival, bei dem wir Jahr für Jahr mit vielen Tausend Menschen diese einzigartige Musik genießen dürfen. In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, die musikalische Vielfalt des Andersseins und die Risiken der improvisierenden Musik mit uns zu erkunden. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen und freue mich darauf, Sie bald beim Jazzfest Bonn zu begrüßen! Herzliche Grüße Ihr Peter Materna Künstlerischer Leiter Was war dein größtes Risiko? Makiko Hirabayashi 11 Harold López-Nussa 13 Julia Hülsmannn 17 Julia Kadel 23 Sera Kalo 24 Linda May Han Oh 25 Mia Knop Jacobsen 27 Fiona Grond 29 Rebecca Trescher 33 Franz Danksagmüller 37 Lars Danielsson 41 Viktoria Tolstoy 42 Iiro Rantala 45 Helge Lien 48 Das Jahr 2024 ist für uns ein Jubiläum: 15 Jahre Jazzfest Bonn! Das möchten wir feiern – am liebsten mit Ihnen!

5 RISIKOWAHRHEIT Terry says: Die Wahrheit stirbt immer in der Mitte. 4 TERRY LENNNOX IS A BRITISH MUSICIAN, ARTIST AND PHILOSOPHER, LIVING IN COLOGNE

7 6 RISIKOREALITÄT Terry says: Der Schlüssel ist der Schlüssel zum Schlüssel.

9 8 RISIKOZUKUNFT Terry says: Gestern. Heute. Morgen.

11 10 Ralf Dombrowski, Journalist und Fotograf aus München, schreibt und berichtet seit 1994 regelmäßig über Jazz, Musik und Kultur für zahlreiche Medien wie Bremsende Mythen Jazz ist auch die Musik der Vorbehalte. Das hängt mit seiner Mythengeschichte zusammen. Am Anfang war die Welt strukturell gesehen relativ überschaubar. Jazz hatte seinen Platz im segregierten Amerika. Er war rassistisch markiert als die Musik der anderen, die nicht zu jener kolonialen Klasse gehörten, welche die kulturellen Werte dominierte. Er gehörte zu den Gegenwelten des Puritanismus, dem Nachtleben, zu Riten und Bräuchen der Ära der Sklaverei, veröffentlicht auf „Race Records“, etwas jedenfalls, das die ehrbaren weißen Bürger*innen nur mit spitzen Fingern oder Lust an der Exotik anzufassen wagten. Allerdings war er erfolgreich, fand den Weg ins Entertainment, in Radio und Film, in die Truppenbetreuung. Und in die Konzerthäuser. Das war ein Zeichen für einen Strukturwandel in der Musik. Dienstleistung wurde zu Kunst, die Swing-Spieler*innen zu Bebop-Solist*innen. Jazz dockte an die klassische Vorstellung der Romantik an, der zufolge nur Großes erreichte, wer sich als aus sich selbst heraus schaffendes Genie fortwährend neu erfand. Mehrere Mythen kreuzten sich folgenreich. Zum Innovationszwang des Genialischen kam die protestantische Leistungsethik (schneller, höher, weiter!), außerdem ein hochkultureller Minderwertigkeitskomplex (Jazz at the Philharmonic), der wiederum bald von politischem Sendungsbewusstsein (Bürgerrechtsbewegung) und dem Bedürfnis nach historisierender Authentizität (Black Power) ergänzt oder auch abgelöst wurde. Die Lust an der Musik wurde an neu entstehende, erblühende Disziplinen weitergegeben, an Pop und Soul, an Rock, Folk und andere populäre, merkantil aussichtsreiche Sparten. Die Jazz-Blase Das Resultat für die Hörenden war anstrengend. Denn die Musik wurde zur Kunst. Und Konsument*innen wurden zu Kompliz*innen. Das ging gut, solange sich Bedürfnisse noch überschnitten. Der Jazz kreierte mit den Clubs neue Räume des gegenseitigen Einverständnisses und der beidseitigen Begutachtung. „Jazzhören wurde selbst zur Kunst.“ Während die einen sich in rasanter Geschwindigkeit gestalterisch entwickelten, gingen die anderen dabei zunehmend in der Rolle bewundernder Andächtiger auf. Jazzhören wurde selbst zur Kunst und mit dem Experten entstand ein passender Typus des ästhetischen Verschwörers, dessen Zugehörigkeit zum Kreis der Initiierten sich über Insiderwissen und Leidensfähigkeit beweisen ließ. Das ursprünglich Umarmende einer Musik, die sich vor allem um den Ausdruck bemühte und dafür tendenziell alles zuließ, was ihn unterstützte, verengte sich auf der Ebene der Rezeption zu einem System des Bescheidwissens, das Externe und Neulinge eher ausschloss, als sie integrierte. Im Umkehrschluss befeuerte das Expertentum wiederum die Musiker*innen, die sich in ihrem experimentellen Drang bestätigt sahen und sich immer weiter wagten, bis hin zur weitgehenden Auflösung formaler Kriterien der Gestaltung. Jazzhören wurde zur Arbeit innerhalb einer künstlerischen Blase. Das kommunikative Spiel zwischen Bühne und Publikum produzierte nicht mehr Neugier, sondern Angst. Das ist mir zu hoch. Das versteht ja keiner mehr. Die spielen ja alle free. Die Wiederentdeckung der Neugier Schwellenängste dominierten von da an das Verständnis. Man wollte sich nicht blamieren. Man wollte nicht zu den superschlauen Oberlehrer*innen gehören, die andere mit Partikularwissen langweilten. Ein Jazz, den man erst lange erklären musste, um ihn vielleicht zu verstehen, war unsexy. Doch dann änderte sich der Diskurs. Zum einen wandten sich die Musiker*innen nach der Auflösung des strengen Systems in Free und Avantgarde wieder der Aufforstung des klanglichen Kahlschlags zu. Sie integrierten Weltmusik, Kammermusik, Rock, Elektronik in ihre Kosmen und schufen so neue Hörangebote für das Publikum. Die heranwachsende Jazzpädagogik entschlüsselte außerdem die Mysterien der Personalstile und machte sie vielen Studierendenzugänglich.DieVermittlung,vor allem in Europa, professionalisierte sich und aus den Liebhaber- und Vereinsstrukturen wurden oft öffentlich geförderte Veranstaltungsorte. Neue Präsentationsformen wie Festivals ermöglichten programmatische Vielfalt und darüber hinaus die Ansprache eines größeren Publikums. Vor allem aber änderten sich die Hörbedürfnisse der Menschen. Das hing mit einem umfassenden Strukturwandel der Öffentlichkeit zusammen. In der Zeit der industriekapitalistischen Moderne konnte Jazz noch provozieren. Denn die vorherrschende Haltung war konservativ. Es ging darum, einen gesetzten Standard zu erreichen und zu erhalten. Mein Fernseher, mein Auto, mein Haus. Die Infragestellung einer Struktur war daher ein Angriff auf deren Bedeutung. Free war gleich Freak, der Wahnsinn der Ablehnung. Mit der Sättigung der Märkte kippte das System. Ein zweiter Fernseher war kein Glücksversprechen mehr, ein Leben ohne Standard hingegen schon. Was war dein größtes Risiko, Makiko Hirabayashi? Makiko Hirabayashi spielt mit ihrem Trio am 21. April im Pantheon Throughout my life, I’ve lived in four different countries on three continents – all very different in their culture and ways of life. While moving from Japan to Hong Kong at the age of 11 and having to start in a British school (without knowing a word of English!) has been the biggest cultural shock that changed the rest of my life, this was not my own decision. After returning to Japan for some years, I got the uncontrollable urge to get off the railroad that was rolled out before me, and decided to jump off. Leaving Japan at the age of 20 to study music in Boston was a big adventure, but I could still go back, if I wanted to. My years at Berklee were full of hope and new discoveries. The biggest risk I’ve taken in my life was probably when I decided to move to Denmark after three years in Boston, to start a new life in yet another foreign country with a partner that I got married to. I had no way of knowing how it would turn out, and this time I felt that there was no way of going back. I was on my own and had to start all over again from zero. My luck was that I played music, which is a universal language. Music is by far the best language that I speak! die Süddeutsche Zeitung, Jazz thing, das Münchner Feuilleton, den Bayerischen Rundfunk und den WDR. Jazz ist eigentlich ein Missverständnis. Die einen wollen Musik machen, mit der sie sich bestmöglich ausdrücken können. Die anderen wollen unterhalten werden. Kunstschaffen mit der Aura der Innovation trifft auf Hörkonsum mit bestenfalls kleinem Überraschungsfenster für Abweichungen von der Gewohnheit. Das ist vereinfacht, natürlich. Im Kleinen gibt es Abweichungen in Richtung gegenseitiger Toleranz. Verstehen ist möglich, aber nicht üblich. Denn es setzt kommunikative Bereitschaft voraus, die Singularität der anderen anzuerkennen. Es geht um die Gleichwertigkeit des Besonderen im allgemeinen Ganzen. Um Kultur als Gleichzeitigkeit der Unterschiede, die nicht bedrohlich, sondern anregend, inspirierend verstanden werden. Weniger ich im wir. Weniger Sicherheit, Vorhersagbarkeit, Eindeutigkeit. Damit hört man sich ins Risiko. so schön bunt MUSIK ist ein Rät s e l. Niemand weiß, warum es sie gibt und wofür man sie braucht. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt sich der Journalist Ralf Dombrowski mit dem Widerspruch, über etwas zu schreiben, was sich der Beschreibung und, wie der JAZZ, gerne auch der REGELHAFTIGKEIT entzieht. Da hilft ein Blick in die Geschichte des Hörens und Bewertens.

Was war dein größtes Risiko, Harold López-Nussa? Harold López-Nussa spielt mit seinem Quartett am 21. April im Pantheon 13 „Mit der Idee der Selbstverwirklichung hielt das Kreative, das Künstlerische Einzug in der Bürgerlichkeit.“ Mit der Idee der Selbstverwirklichung hielt das Kreative, das Künstlerische Einzug in die Bürgerlichkeit. Neugier und Ausprobieren hatten wieder einen Sinn, solange es der Selbstentfaltung diente. Jetzt konnte man auch einfach Jazz nur hören. Die Segnung der Expert*innen wurde überflüssig, das persönliche Empfinden rückte in den Mittelpunkt. Die große Freiheit Das machte es für den Jazz nicht einfacher. Auf der einen Seite war alles erlaubt, auf der anderen wusste niemand mehr, was wem gefiel. „Wenn alles gleichwertig ist, wie erkenne ich, was auch wichtig ist? Womit ich meine Zeit verbringen soll?“ Mit den Achtzigerjahren startete die große Zeit der experimentellen Festivals, gleichzeitig rutschte der Marktanteil des Jazz immer weiter Richtung Bedeutungslosigkeit. Wahrnehmung globalisierte sich, aber zugleich entkörperte sich die künstlerische Erfahrung und wurde zu Datensätzen. Die potentielle Chance einer Gesellschaft der Singularitäten mit ihrer Gleichzeitigkeit der Besonderheiten mündete für die spätmoderne Welt in eine Freiheit, die neue Unsicherheiten entstehen lässt. Denn wenn alles gleich wertig ist, wie erkenne ich, was auch wichtig ist? Womit ich meine Zeit verbringen soll? Was verdient Aufmerksamkeit, Anerkennung und warum? Und wo stehe ich in dieser Ambivalenz der Ansprüche? Wahrscheinlich mittendrin. Populistische Lösungsvorschläge des pluralistischen Dilemmas führen in der Regel zur Vereindeutigung der Welt. Das EntwederOder aber verneint die Vielfalt. Versteht man hingegen „Jazz im Sinn eines Verfahrens und nicht im Sinn eines Genres“ (Christopher Dell), gibt es Auswege aus einer binären Vorstellung von Kreativität und Weltverständnis. Und das betrifft nicht nur die, die Musik machen, sondern auch alle, die sie hören, veranstalten, promoten und verbreiten. Ein bisschen Risiko Wollte man einen Leitfaden für die Option spätmodernen Hörgenusses schreiben, könnte an erster Stelle die Fähigkeit stehen, Unterschiede auszuhalten. Was nicht meiner Gewohnheit entspricht, muss nicht von vornherein schlecht sein. Das ist eine Binsenweisheit, aber eine, an die sich weiteres anschließt. Denn an nächster Stelle könnte der Ratschlag stehen, nicht vorbeugend zu werten. Das Gehirn macht es sich zwar gerne leicht und freut sich, wenn die permanent getroffenen Vorhersagen seiner Wahrnehmung auch eintreffen. Aber es stagniert, wenn es seine Urteile nicht auch modifizieren muss. Wer schon weiß, wie es klingt, wird nie erfahren, wie es sich noch und womöglich besser, passender, pointierter anhören könnte. „Die Offenheit des musikalischen Systems Jazz ist eine Chance, an Lebenswelten anderer teilhaben zu dürfen. Was für ein Glück!“ Jazzhören kann daher ein Prozess mit unerwartetem Ausgang sein. Mehr noch, denn es kann auch an Assoziationen anknüpfen, derer man sich nicht oder nur wenig bewusst ist. Da geht es um Melodien der eigenen Vergangenheit, kollektives und kulturelles Erinnern, um Mehrfachkodierungen des akustischen Eindrucks mit Emotionen und Sinneseindrücken, das ganze Paket der bislang nur rudimentär erforschten Zusammenhänge von Musik und Gefühl. Und hier schließt sich der Bogen zum Risiko als Hörmaxime. Die Offenheit des musikalischen Systems Jazz ist anstrengend, weil oft unvorhersehbar. Sie lässt aber als improvisierendes Verfahren mehr zu als viele andere Klangformen, die rituell, kulturell, historisch geprägt und festgelegt sind. Es ist eine Chance, an Lebenswelten anderer teilhaben zu dürfen. Zu hören, was sie fühlen, zu ahnen, was sie denken. Was für ein Glück! < Lektüre zum Hintergrund Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen I moved to France with my family (daughters and wife) two years ago. Setting a new life in a new continent, country and culture so different from Cuba has been the biggest challenge in my life so far. Wir unterstützen ein vielfältiges Angebot an regionalen Kultur-, Musik- und Sportveranstaltungen. WIR IN BONN FÜR BONN

15 14 Ich möchte zeigen, in welcher Weise Jazz mit Risiko verknüpft ist. Ich beziehe mich hier auf Jazz im Sinn eines Verfahrens und nicht im Sinn eines Genres. Das heißt, ich gehe nicht darauf ein, wem „Jazz“ als Genre gehört, wer ein Recht hat, den Begriff zu benutzen, sich mit ihm zu identifizieren usw. Ich reagiere damit auf die Tatsache, dass in der Musik Genre, Verwandtschaft und Identität oft auf eine diskriminierende Weise miteinander verbunden sind. In der Musik fungieren Genres allzu oft als Naturalisierung von Diskursen. Mit Risiko ist hier eine mit Unbestimmtheit behaftete Situation gemeint, die bewusst angesteuert wird. Im musikalischen Sinn bedeutet Eingang eines Risikos dann eine musikalische Situation herbeizuführen, deren Verlauf ich nicht abschließend vorhersehen kann. Jazz als Gefüge: Weisen des Zusammenspiels Um Jazz als ein Verfahren zu beschreiben, greife ich auf den Begriff des Gefüges zurück. Er gestattet es, nach relationalen Wirkungen zu fragen, ohne sie vorauszusetzen. Gefüge sind offene Versammlungen und Anordnungen. Ich will verstehen, wie Menschen zusammen Musik im Offenen herstellen. In Gefügen bilden sich Muster des Zusammenspiels divergierender und unterschiedlicher Handlungsformen, die es erlauben, die Offenheit eines musikalischen Prozesses konstruktiv zu halten. Mit dem Gefüge zeigt sich eine überraschende Methode, musikalische Komposition neu zu betrachten. Gefüge sind die Orte, an denen die Komposition ins Funktionieren kommt. Das klingt abstrakt. Daher schwenke ich auf ein anderes Thema über, das, so hoffe ich, den Sachverhalt metaphorisch zu erklären vermag, und das allen sofort einleuchtet: Brot. Elises Brotladen im Gefüge der Stadt: vom konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit Im Gefüge der Stadt ist die Tatsache, dass Existenzweisen von Singularitäten immer plural sind, besonders augenfällig: Ich arbeite als Theoretiker und bin darauf angewiesen, bei der Bäckerin nebenan mein Brot zu bekommen, mit der U-Bahn zum Termin zu gelangen oder im Restaurant um die Ecke ein gutes Mahl zu mir zu nehmen. Gefüge verschalten Existenzweisen nicht nur, sie bringen sie auch hervor. Elise, die Bäckerin nebenan, ist keine Bäckerin im gewöhnlichen Sinn. Sie fährt morgens unterschiedliche, von ihr ausgewählte Bäckereien an und fragt, was vom Vortag an Broten übriggeblieben ist. Dann schaut sie, welche sie davon gut an die Kund*innen weiterverkaufen kann, sammelt alles in ihrem Kastenwagen und bringt die Ware in ihren Laden. Anders als andere Bäckereien öffnet der Laden um 12 Uhr. Die Menschen im Stadtviertel wissen das und haben sich darauf eingestellt. Sie wissen auch, dass sie, wenn sie den Laden betreten, nicht wissen können, welches Sortiment an Brot da sein wird. Elise hat ihren Laden auf wundersame Weise so organisiert, dass sie auf 25 qm Grundfläche alles gut unterbringt, sogar die Kaffeemaschine. Meistens kommen die Menschen einzeln in den Laden. Die anderen warten vor der Tür. Manche unterhalten sich dort beim Warten. In diesem Sinn kann Elise nicht nur die Überproduktion der anderen Bäckereien in eine nachhaltigere Form überführen und den Menschen günstiges Brot anbieten. Der Laden macht auch die Straße in der Erdgeschosszone lebendig und bietet zudem vier Verkäufer*innen ein Einkommen. Keineswegs hatte Elise diese Form eines Ladens geplant. Sie hat einfach die divergierenden Existenzweisen der Bäckereien in der Stadt wahrgenommen, das, was in ihrem Zusammenspiel und ihren Überlagerungen an zeitlichen und räumlichen Rhythmen gelingt, aber auch, welche Lücken es gibt, wo noch keine Verschaltung des Gefüges stattfindet. Und dann hat sie einfach versucht, Verschaltungen herzustellen. Überraschenderweise kann man aus einem solchen konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit des Bestehenden auch manches für die politische Ökonomie im Hinblick auf Nachhaltigkeit lernen. Die Manager der Brotkonzerne, die wiederum Investoren gehören, schauen nur mit einer Perspektive. Es ist die der Exceltabelle. Elise aber schaut aus vielen Blickpunkten auf das Gefüge des Bäckereiwesens, auf die simultan ablaufenden unterschiedlichen Rhythmen, auf die Qualitäten und Lücken der Momente, die aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure hervorgehen. Sie hat sich eine Wahrnehmungsweise angeeignet, die es ihr erlaubt zu verstehen, wie menschliche und nicht-menschliche Existenzweisen zusammenwirken. Das gilt ebenso für die Mitarbeiter*innen der jeweiligen Bäckereibetriebe, für die Manager*innen, aber auch für die Kund*innen, die bauliche Struktur ihres Ladens, die Verderblichkeit von unterschiedlichen Brotsorten, die Bevölkerungsdichte in dem Viertel, in dem sie ihren Laden betreibt. Man befindet sich dann dort, wo Gefüge von Existenzweisen tatsächlich ins Funktionieren gebracht und Singularitäten verschaltet werden. Genau diese Fähigkeit zur Wahrnehmung ist gefragt, wenn es um eine wertschätzende Anerkennung bestehender Gefüge von Existenzweisen geht. Aber sie fehlt. Die Lieferkette von Elises Laden ist von polyphonen Rhythmen durchsetzt – Vielfalt und Abwechslung sind das Ergebnis Von Elises Laden nimmt die gängige Ökonomie an, es handele sich um einen Teil der Randgebiete des Unbestimmten innerhalb einer teleologischen Produktion. Der Bäckereigroßbetrieb, der außerhalb der Stadt die Landschaft zersiedelt, ist ein Beispiel einer teleologischen Zeittaktung. Alle Arbeit in der Fabrik folgt einem vorgegebenen Rhythmus, ebenso die Standzeit der vielen Autos auf dem Parkplatz vor der Fabrik und die Frequenz der Lieferwagen, die die Ware in die Stadt bringen und an die Filialen ausliefern. Doch die Lieferkette von Elises Laden ist von polyphonen Rhythmen durchsetzt. Das Sortiment wechselt ständig zwischen den jeweils übrig gebliebenen Brotbeständen in den verschiedenen örtlichen Filialen, Produktionen lokaler Kleinbäckereien und Standardproduktionen großer Betriebe. Jeder dieser Betriebe fordert andere Kommunikationsformen, Zeitfenster und Übergaberituale. Wenn man also die Fabrik der Großbäckerei verlässt und sich Elises in vielerlei Hinsicht unkalkulierbarer Arbeit zuwendet, multiplizieren sich die Verschaltungen und ihre Rhythmen. Je weiter man von der Fabrik weggeht und sich Elises Wanderungen zuwendet, umso mehr werden die mannigfaltigen Verschaltungen zwischen polyrhythmischen und industriellen, monogetakteten Gefügen zur Voraussetzung des InsFunktionieren-Kommens von Produktion. Die zentrale Fragestellung, auf die man hier aufmerksam machen sollte, ist, dass diese Verschaltungen meist in der industriellen Lesart des Produzierens, das unsere Wahrnehmungsmuster bestimmt, gar nicht in den Blick geraten. Was fehlt, sind die Folien und Instrumente, anhand derer sich diese Verschaltungen wahrnehmen und weiterschreiben lassen. > Christopher Dell beim Jazzfest Bonn: Hülsmann/Wogram/Dell 27. April, LVR-LandesMuseum Christopher Dell ist Städtebau- und Architekturtheoretiker, Komponist und Musiker. Dell war Professor für Städtebautheorie an der HafenCity Universität Hamburg, der TU München F Ü R E L I S E Der Vibraphonist, Komponist und Architekturtheoretiker Christopher Dell betrachtet Jazz nicht als Genre, sondern als musikalisches Verfahren, das von Offenheit und Unbestimmtheit geprägt ist. Was das mit dem Führen eines nachhaltigen Brotladens zu tun hat und wie durch das kollaborative Ansteuern von Risiken neue Kompositionsformen entstehen, darüber denkt er in diesem Essay nach. und der Universität der Künste, Berlin. Er leitet das ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Berlin.

Was war dein größtes Risiko, Julia Hülsmann? Das größte Risiko im Leben ist für mich immer wieder, mein Herz zu öffnen – das heißt sich verletzlich machen – gleichzeitig ist es für mich die einzige Möglichkeit zu leben – man muss das Herz öffnen, um sich berühren zu lassen – auch um andere zu berühren – natürlich scheitert man da immer wieder – man muss es trotzdem immer wieder versuchen – dann wird man auch immer wieder belohnt. Hülsmann/Wogram/Dell spielen am 27. April im LVR-LandesMuseum; Julia Hülsmann auch in der Band von Mia Knop Jacobsen am 19. April in der Bundeskunsthalle 17 blue notes www.PhoenixReisen.com · Telefon 0228/9260-200 Buchbar auch in Ihrem Reisebüro blue sky blue sea Alles basiert auf Zusammenarbeit Wenn man aufmerksam auf Elises Arbeit schaut, dann merkt man schnell, dass Singularitäten in der Stadt nicht allein existieren. Alles basiert auf Zusammenarbeit. Zusammenarbeit heißt, dass unterschiedliche Singularitäten trotz ihrer Verschiedenheit Situationen gemeinsam ins Funktionieren bringen. Aufgrund der Verschiedenheit der Einzelnen, die zusammenwirken, kommt es innerhalb der Arbeit zur Verwandlung der Einzelnen. Diese Verwandlung ist nicht vorgegeben, sie entsteht aus der Zusammenarbeit selbst. Sie ist emergent. Das bedeutet auch, dass Unbestimmtheit zum Gelingen der Zusammenarbeit gehört. Umgekehrt gilt: Wenn man Unbestimmtheit als notwendigen Teil der Gefüge akzeptiert, dann nimmt man auch die Verletzlichkeit aller wahr. Alle sind dann auf die Hilfe anderer angewiesen. Wenn sich Elises turbulente und heterogene Arbeit am besten dazu eignet, von mit Unbestimmtheit durchdrungenen Verschaltungen zu erzählen, ist es an der Zeit, diese Turbulenz zu einem Teil der allgemeinen Wissenspraxis zu machen. In Elises Arbeit kommt eine multiperspektivische Rhythmik zum Ausdruck, eine Alternative zu der linearen Fortschrittserzählung, die noch immer unser Sehen und Wahrnehmen von Welt bestimmt. Jazz: kollaboratives Komponieren Wie wäre es, sich das musikalische Leben wie den Laden von Elise vorzustellen: als Quelle vieler nützlicher Ereignisse und Zusammenkünfte, die aus dem achtsamen und kollaborativen Umgang mit Unbestimmtheit jenseits teleologischer Verwertungslogiken entstehen und eigentlich nur damit zu tun haben, das Zusammenleben der Unterschiedlichen zum Gelingen zu bringen? Man beachte nur die Freuden und Vielfältigkeiten in Elises Laden, die jeden Tag neu zusammenfinden. So stelle ich mir auch den Jazz als Verfahren vor. In ihm basiert alles Wissen auf Übersetzung. In ihm ist das Wissen eben nicht das reine lineare Wissen eurozentristischer Kompositionslehre. Stattdessen tauchen die Wissensbestände der europäischen Kompositionslehre in die Vielheit der kollaborativen Formen des Komponierens von Musik ein, wie sie auf der ganzen Welt zu finden sind. Man hat es hier mit einer Erweiterung der Kompositionsformen zu tun. Sie lässt die westlichen Wissensformen hinter sich, um in der zwischen Menschen und Dingen sich entfaltenden Musikwelt überraschende Artikulationen zu erforschen. Freiheit und Risiko Wenn ich vom konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit des Risikos spreche, bin ich weit davon entfernt, die neoliberale Ideologie des Risikos zu befeuern. Man sollte an dieser Stelle auf den spezifischen Freiheitsbegriff aufmerksam machen, der die neoliberalen Subjekte letztendlich hervorbringen soll. Sie sind die Unfreisten. Sie akzeptieren die innere Veränderung ihrer selbst, ohne nach den äußeren Bedingungen zu fragen, die diese Veränderung provoziert. Wo sie an die Naturalisierung der Verhältnisse glauben, nehmen sie ihre Unterwerfung gar nicht mehr bewusst wahr. Im Gegenteil: Sie sehnen sich nach Instrumentalisierung – mit ihr und durch sie haben die neoliberalen Subjekte endlich eine Funktion. Als Spielbälle des Marktes sind sie nur in dem Sinn frei, als sie im Set der bestehenden Ordnung Varianten wählen dürfen. Wirkliche Freiheit aber ist, das Set der Ordnung selbst zu befragen – wem dient sie, wer profitiert von ihr? – und gegebenenfalls zu verändern. Ein Brotladen, der nicht zu Ende kommen möchte Was ist das für ein Brotladen, der nicht zu Ende kommen möchte? Es ist ein Ort, an dem jede unbestimmte Zusammenkunft wiederum weitere in Fülle begünstigt. Nichts davon wäre möglich, wenn Elise nicht die Wissensformen der Fabrik, das heißt die Kontrolltechniken der Kommerzialisierung, geschickt, spielerisch und weiträumig umgehen würde. Läden wie der von Elise sind für den eher monopolistisch ausgerichteten Markt des Brotes ein Ärgernis. Ihn aber verschwinden zu lassen ist nicht leicht. Die Menschen, die in der Straße und in dem Viertel wohnen, profitieren in ihrem Zusammenleben davon. Wenn man wie Elise Brot sammelt, reicht es nicht, eins zu finden. Man möchte unbedingt das nächste finden. <

19 18 Anruf beim Gitarristen zu Hause in BerlinNeukölln. Wir plaudern gleich los, er ist aber schwer zu verstehen unter einem hellen, unregelmäßigen Scheppern in der Leitung. Was ist das für ein Geräusch? „Ich wasch mir grad den Ellenbogen“, sagt Olaf Rupp, „der tut weh, und wenn man da zu viel Arnika-Salbe drauftut, geht die einfach nicht mehr in die Haut rein. Seit Corona ist da eigentlich was nicht ok.“ So sind wir sofort bei Befindlichkeiten, Umständen des Musiker-Lebens, Fragen der Vorbereitung. Wenn er ein Solokonzert mit komplett frei improvisierter Musik spielt, also keine Kompositionen, keine Stücke, kein Programm, wie geht er da heran? „Den Monat vor dem Auftritt sind drei Stunden Üben am Tag das Minimum, davon eine Stunde richtig Spielen wie ein Konzert, zuhause in der Küche.“ Und dann, am Tag des Auftritts? „Das ist wie ein Countdown beim Raketenstart, das fängt morgens an. Möglichst keinen Stress haben, einen Autounfall vermeiden, eine Stunde Warmspielen. Mittags noch eine Siesta. Man spielt besser, wenn man ausgeschlafen ist.“ Und wenn es auf die Bühne geht? „Ich versuche im Kopf das Fenster aufzumachen zur Musik.“ Woher kommt der erste Ton? Hat er sich den vorher überlegt? „Ich versuche das zu vermeiden. Früher habe ich mir einen Anfang vorgestellt, also, ich beginne mit einem Tremolo, dann ein Pizzicato, das passt super – hat aber nie funktioniert. Ich plane nicht während des Spielens, deshalb plane ich auch den Anfang nicht. Also, ich fange wirklich in dem Moment an.“ Manche Musiker, die improvisieren, schaffen sich eine grobe Dramaturgie, indem sie ihre Techniken portionieren, also nicht alles, was sie können, von Anfang an einsetzen, um Redundanzen zu vermeiden. Wie sieht΄s damit aus? „Das mag ich überhaupt nicht. Wenn ich so jemanden spielen höre, dann denk ich: Ah, jetzt kommt das mit der Flatterzunge, und jetzt kommt das mit dem Becher. Die wechseln dann auch ihr Instrument zwischendurch, alles nach einem Plan. Das ist schon ein kompositorisches Moment. Für mich hat sich das nicht bewährt. Es ist reine Nervensache, dass man nicht gleich in den ersten zehn Minuten alle Tricks verschießt, die man so hat, nur weil man nervös ist. Das gibt sich irgendwann. Mittlerweile bin ich auf der Bühne nur noch selten nervös, beim Solospielen gar nicht.“ Ist eine Improvisation in der Gruppe einfacher als allein? Wenn man selbst mal keine Idee hat, wie es weitergeht, hat jemand anders eine? „Ja und nein, kein Gegenüber zu haben kann einem auch helfen. Man muss nicht so viel kämpfen. Es kann zudem sein, dass auch die anderen keine Idee haben.“ Wenn es ohne Plan geht und zur Not auch ohne Idee geht, gehen muss, was geschieht denn da eigentlich beim Spielen? „Das ist schwer zu vermitteln. Ich denke dann nichts. Ich versuche in der Musik zu leben, aber ich bin nicht in Trance. Ich kenne das von Kindern: Wenn Kinder spielen, dann sind die ganz weg, und die sind ja auch nicht in Trance. Man ist halt in dem Stück, das man macht, ganz drin. Das ist, wie wenn man etwas macht und darüber die Zeit vergisst.“ Er muss auf der Bühne aber doch die Zeit im Auge haben? „Mittlerweile lege ich mir eine Uhr hin. Die innere Zeit ist ja ganz anders als die äußere. Ich hatte es früher schon, dass ich ewig lang gespielt hatte und dachte, das war jetzt nur eine halbe Stunde, oder auch, dass ich nach zwanzig Minuten aufgehört habe im Gefühl, das war jetzt viel zu lang.“ Wie steht es um die Qualität? Wann empfindet er ein solches Konzert als gut, wann als weniger gut? „Das ist für mich nicht die Kategorie. Ich versuche das Set so anzustoßen, dass es läuft wie ein Domino, dass ich nicht noch Ideen haben muss. Die Ideen kommen eigentlich aus der Musik heraus. Das Problem ist eher, nicht zu viele Ideen reinzuschmeißen. Meist hat man viel zu viele Ideen. Es ist interessanter, einen Fokus zu behalten und eine Sache zu entwickeln. Wenn man eine Idee hat und will sie für später aufbewahren: Da fängt es ja schon an kognitiv zu werden. Manchmal pendele ich zwischen zwei Ideen, dann muss ich natürlich bewusst damit umgehen, das fließt nicht so von selbst. Mir ist es am liebsten, wenn es von selber fließt. Deswegen schaue ich auch nicht so auf eine Dramaturgie, auf einen Bogen. Ich will, dass es für das Publikum so ist, wie es für mich ist. Da geht ein Fenster auf, und dann ist die Musik da, und dann geht das Fenster zu, und die Musik ist wieder weg.“ Klingt glasklar. Sofort schickt Olaf Rupp ein Aber hinterher: „Das klappt meistens nicht. Irgendwie kommt immer wieder so ein Bogen hinein. Dann merkt man, gleich ist Schluss, und spielt auf einmal so, als wäre jetzt gleich Schluss.“ Ja, wie endet so eine Solo-Improvisation dann? „Im Idealfall, wenn es von selbst aufhört. Ba dang dada-dang dangchang – und dann ist Schluss. Und dann muss ich ja nur in dem kurzen Moment entscheiden, ok, ich nehme den Schluss, ich bleibe jetzt dabei, sonst kommt halt sofort die nächste Note.“ Und dann fällt Olaf Rupp ein schönes Bild ein für das, was er macht: „Das ist, wie wenn man an einem Feuer sitzt, und man macht ab und zu was, sonst geht das Feuer aus. Aber man versucht halt, nicht zu viel drin herumzustochern, sonst zerfällt es. Es geht darum, sich zurückzuhalten, sich bewusst zu entscheiden, es nicht zu kontrollieren, solange es in die richtige Richtung läuft.“ Und wenn der Auftritt vorbei ist? „Ich bin leider kein Entertainer. Ich bewundere die Leute, die dann immer noch so quatschen können, mit dem Publikum so Witze machen. Das gelingt mir einfach nicht.“ Udo Jürgens kam immer im Bademantel noch mal auf die Bühne. „Da könnte ich noch dran arbeiten“, sagt Olaf Rupp vergnügt, „vielleicht nehme ich einen Bademantel mit nach Bonn.“ < Olaf Rupp spielt seine von allen gängigen Genres freie Musik beim Jazzfest Bonn am 21. April um 15 Uhr im Beethoven-Haus Ulrich Stock schreibt für DIE ZEIT in Hamburg über Jazz und verwandte Musik. Wie ein Countdown beim Raketenstart Der Berliner Gitarren-Virtuose Olaf Rupp über seine Kunst, völlig planlos auf die Bühne zu gehen Von Ulrich Stock

21 20 Ein Künstler im Wandel der Zeit Zeiten ändern sich, und mit ihnen die Spannung auf dem Drahtseil des Lebens. Der britische Songwriter Nick Drake war ein Seiltänzer, ein Poet, der die Feinheiten des Lebens sensibel auszutarieren suchte, dabei aber nicht selten das Gleichgewicht verlor und 1974 nach drei Alben mit nur 26 Jahren endgültig wegrutschte. Viel Erfolg war ihm nicht beschieden, umso größer wirkt seine Legende nach. Nick Drake beschrieb in seinen Songs mit damals seltener Offenheit ein Lebensgefühl der individuellen Verlorenheit, das heute in den Jahren nach Corona viele Menschen teilen. Er wusste um die Risiken seiner Existenz in einem Umfeld, das unaufhaltsam voranschritt, ohne Rücksicht auf jene zu nehmen, die dieses Tempo vielleicht nicht mithalten konnten. Und wie kriechgangartig muten die späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre im Vergleich zum Malstrom der Gegenwart an. Gerade junge Menschen fühlen sich nach Jahren der Isolation heute auf ähnliche Weise verloren wie seinerzeit Nick Drake und finden in dem Barden einen frühen Verbündeten. Was aber hat all das mit Gina Schwarz zu tun, einer Bassistin, Bandleaderin und Arrangeurin, die seit vielen Jahren zu den Aktivposten der Wiener Jazzszene gehört? Auf ihrem Album Way To Blue spendet sie Nick Drake Tribut. Doch einerseits gibt es auf dem Album keinen einzigen Song von Drake, darüber hinaus ist die Musik so bunt, prall und vielseitig wie das Leben. Neben nachdenklichen und introspektiven Tönen gibt es auch viele Lieder, die von Lebensfreude, Hoffnung und Kraft geprägt sind. Wie kann das sein? Eine ungewöhnliche Annäherung Es war Gina Schwarz zu wenig, einfach nur vorhandene Songs in neuen Arrangements nachzuspielen. Sie entwarf eine Welt, in der ganz unterschiedliche Erfahrungsstränge zusammenliefen. Am Anfang stand ein Kompositionsauftrag. Lange bevor die Wienerin mit der Umsetzung dieses Auftrags begonnen hatte, sollte sie schon ein ausformuliertes Konzept abliefern. „Ich habe mich einen ganzen Tag hingesetzt und über hochtrabende Worte nachgedacht“, erinnert sie sich. „Aber dann fand ich, es wäre doch viel sinnvoller, etwas zu machen, was ich selbst gerade gern höre. Und das war eben Nick Drake. Ich konnte gar nicht aufhören, seine Songs zu hören. Warum sollte ich also etwas erfinden, nur um der Presse etwas zu geben. Nein, ich wollte mich mit Musik beschäftigen, die mich interessierte, und war mir sicher, dass mir schon etwas einfallen würde, wie ich sie verwende.“ So schrieb sie erst einen Pressetext, der für sie selbst zugleich die Formulierung einer Aufgabenstellung war, die sie dann nur noch erfüllen musste. Ihre Zugangswinkel sind dabei ganz unterschiedlich. Mal geht sie von den Texten aus, die jede Menge Anknüpfungspunkte bieten, um daraus Stimmungen abzuleiten. In anderen Songs sind es musikalische Ideen Drakes, die sie auf ihre Weise umarbeitet. Zum Beispiel extrahierte sie aus dem Song River Man den Gitarrenpart und teilt ihn auf zwei Klarinetten auf. In wieder anderen Tracks greift sie nur die Atmosphäre eines Drake-Songs auf, um damit in eine ganz neue Richtung aufzubrechen. „Ich habe mir aus jedem Stück das genommen, was mich am meisten fasziniert und mir jedes Mal neu die Frage gestellt, was ich selbst damit machen kann“, beschreibt Gina Schwarz diesen Prozess. „Lasse ich das Stück nur auf mich wirken, oder beziehe ich mich auf einen konkreten Part?“ Wer mit Drakes Werk vertraut ist und aufmerksam sucht, wird diese Anknüpfungspunkte und Referenzen finden. Doch die Musik besteht auch für sich selbst und sucht nach neuen Wirklichkeiten für das 21. Jahrhundert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bei allen Bezügen auf Nick Drakes Songs bestehen aber auch entscheidende Unterschiede zwischen den Vorlagen und den neuen Kompositionen. Dass die Songs von Gina Schwarz auf Gesang und Texte verzichten, ist dabei noch der nebensächlichste. Auffälliger ist die Vielfalt der Annäherungen im Gegensatz zum Gesamtwerk des Briten, durch das sich von Anfang bis Ende dieselbe gedrückte Stimmung zieht. „Ich habe dreizehn Songs geschrieben“, so Gina Schwarz. „Da kann man auch nicht jeden Song melancholisch, melancholisch und wieder melancholisch gestalten. Das geht nicht, denn dann gehen die Leute nach einem Konzert deprimiert nach Hause. Deshalb setzte ich den nachdenklicheren Stücken auch groovigere Songs entgegen. Manchmal nahm ich auch nur den Titel und machte dann etwas ganz Anderes daraus. In einem Song ist von ,Sandy Tracks‘ (dt.: Sandige Spuren, d. Red.) die Rede. Das assoziierte ich mit Wüste, und daraus wurde eine Art orientalisches Pattern.“ So macht Gina Schwarz aus den Songs und Stimmungen von Nick Drake oft das Gegenteil dessen, was es ursprünglich war. Trotz der depressiven Ausgangsmasse sucht sie nach dem positiven Ausgang in jedem Lied, bekennt sie. Es ist, als würde sie mit Nick Drake durch ein durchlässiges Netz Pingpong spielen. Dazu kam noch eine andere einschneidende Erfahrung, die Gina Schwarz so nicht vorhersehen konnte. Ein Tag bevor sie mit den Kompositionen begann, starb ihr Vater. „Das war so nicht geplant, aber irgendwie muss man ja damit umgehen. Ich baute einige Geschichten ein, die ich mit meinem Vater erlebt habe. Aus River Man machte ich zum Beispiel Cave Man und verarbeitete eine Erinnerung, wie wir im Garten ein Hockgrab aus der Bronzezeit fanden. Für ein Kind ist das natürlich sehr prägend. Ich habe mir unweigerlich vorgestellt, wie diese Menschen gelebt haben mögen. Dazu fiel mir dann eine Art rituelle Trance-Musik ein. So vermischen sich Nick Drakes Geschichten mit meinen persönlichen Geschichten, zumal das ja genau in der Zeit passierte, als er seine Platten rausbrachte.“ Am Ende ist Way To Blue nicht allein eine Verneigung vor einem Großen der Rockgeschichte, sondern auch eine Begegnung zwischen Gina Schwarz, ihrem Vater und ihrer eigenen Kindheit. < Wolf Kampmann ist freier Publizist, arbeitet für Funk, Print und OnlineMedien, unterrichtet an mehreren Hochschulen und ist Autor von Sachbüchern und Romanen. Nick Drake war kein Jazzmusiker. Die österreichische Bassistin und Bandleaderin Gina Schwarz findet aber vom Jazz aus einen neuen Zugang zu dem traurigen Troubadour und entlockt seiner Botschaft überraschend lebensbejahende Aspekte. T o D r a k e Gina Schwarz & Multiphonics 8 beim Jazzfest Bonn: 24. April, LVR-LandesMuseum A n d N o t T o D r a k e

22 23 Was war dein größtes Risiko, Julia Kadel? Bettina Bohle ist seit 2013 für verschiedene Jazz-Verbände aktiv (IG Jazz Berlin, BK Jazz, Deutsche Jazzunion), zuletzt leitete sie das Projekt „House of Jazz – Zentrum für Jazz und Improvisierte Musik” (AT). Zum Jazz kam die studierte Gräzistin, Musikwissenschaftlerin und Philosophin über selbst organisierte Hauskonzerte. Mehrere Jahre betrieb sie den Blog JAZZAffine samt zugehörigem Newsletter. Als freie Projektmanagerin hat sie die Initiative Musik beim Aufbau des Deutschen Jazzpreises unterstützt. Wie klingt die Zukunft des Jazz? Eine spannende, große und eigentlich unbeantwortbare Frage. Denn wohin die Reise geht, weiß ja noch niemand so genau. Es gibt Menschen, die tiefer drinstecken in den Szene-Eingeweiden und daher manches schon kennen, was andere erst später zu Gesicht bekommen – Veranstalter*innen, Festivalmacher*innen, Verbandsleute und natürlich die Musiker*innen selbst. Aber welche Faktoren des Lebens, der Gesellschaft, der Strukturen sich wie auf ästhetische Diskurse und Praktiken auswirken, ist eine Frage, die keine Antwort hat – denn unzählige Menschen und Umstände werden mitwirken. Frei nach Aristoteles: Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend. So viele top ausgebildete Menschen sind in Deutschland in der Jazz- und Improvisationsszene unterwegs, so viele internationale Menschen arbeiten und musizieren hierzulande miteinander; die Strukturen sind zwar noch lange nicht ausreichend, aber sie werden immer besser – da kann doch nur etwas Gutes bei herauskommen! Gerade bei Live-Erlebnissen ist die Musik, die unter „Jazz“ läuft, besonders stark und in Streaming- und Post-Corona-Zeiten wird dieser Bereich immer wichtiger. Mag man den Menschen auch nicht vollständig zustimmen, die sagen, dass es „Jazz“ gar nicht auf Platten gibt, weil die Interaktion, der Raum, der unmittelbare Austausch, die Atmosphäre integral dazugehören – am Ende bleibt unzweifelhaft dieser Moment unvergleichlich, wenn ein paar Meter entfernt auf der Bühne sichtbar ein Lächeln über die Gesichter der Musiker*innen huscht, ein Kopfnicken ausgetauscht wird, im gemeinsamen Erleben des musikalischen Geschehens, dessen Teil mensch als Publikum wird. Vielleicht lächelt da auch jemand, weil gerade etwas nicht ganz so funktioniert hat wie geprobt; dieses Miterleben des Entstehens der Musik, die zwar in mehr oder weniger großen Teilen komponiert ist, die aber doch auch immer konstitutiv weiterentwickelbar bleiben will und bleibt, ist auch als Zuhörer*in unglaublich befriedigend. Und es sollte nie unterschätzt werden, welchen Anteil das Publikum für die Atmosphäre hat, in der diese Live-Musik entsteht. Immer wieder berichten mir Musiker*innen davon, wie viel sie davon mitbekommen, was vor der Bühne passiert. Zukunft – eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart Die Frage nach der Zukunft von etwas ist eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart und deren Bewertung. Bewegungen wie der Afrofuturismus von Sun Ra und – neuer – von Janelle Monáe oder auch Sera Kalo entwerfen zwar Zukunftsvisionen, stellen aber eigentlich die Frage u.a. nach der Rolle von und dem Umgang mit Schwarzen Menschen und, im Fall von Monáe und Kalo, (Schwarzen) Frauen* in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Am wichtigsten vielleicht als Musiker*in, zumindest finde ich das als Zuhörende: Fragen, Zuhören, Gewissheiten aufgeben und sich immer wieder Hinauswagen in Unsicherheiten. Hier scheint mir aus einem Zulassen von Verletzlichkeit Spannendes zu entstehen – wie dies auch die Pianistin Julia Kadel mit ihrem Album Powerful Vulnerability in Erinnerung ruft. Oder die Bassistin Linda May Han Oh mit ihrem Projekt The Glass Hours, das entstanden ist, nachdem Oh inmitten der Coronapandemie Mutter geworden war. Aus ästhetischer Verletzlichkeit und Sensibilität kann echte ästhetische Erfahrung entstehen. Ein solches Erlebnis kann für das Publikum auch (zunächst) Verstörung und Vor-den-Kopf-Stoßen bedeuten. Aber gerade etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen: Nicht alles, was wahrgenommen wird, gleich in bekannte Schubladen einzuordnen, kann es möglich machen, diese Schubladen auch einmal zu hinterfragen, neu zu denken und anders zu bauen. Jazz im Sinne einer (improvisierenden) Musik, die einerseits atmosphärisch das Drumherum aufnimmt und verarbeitet, die anderseits aber auch ein Nebeneinander von verschiedenen Ideen ästhetisch möglich und auch greifbar macht, ist dafür prädestiniert und weist damit über sich hinaus – Zukunftsmusik im wahrsten Sinne des Wortes; wie sie auch das Bundesjazzorchester mit seinem > „Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend.“ „Etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen.“ Bettina Bohle leitet seit März 2024 das Jazzinstitut Darmstadt. Für zettbe: befragt sie die Gegenwart durch die Brille der Zukunft. Julia Kadel spielt am 21. April um 15 Uhr im Beethoven-Haus wie klingt ......... der jazz ... ... ......der ... .. ...........zukunft? ....

24 Was war dein größtes Risiko, Linda May Han Oh? 25 After high-school, I was on track to either studying law, or training to be a classical bassoonist. Instead, I chose to study jazz bass after teaching myself electric bass, and eventually started playing upright bass and moved to New York five years later. My parents thought I was crazy, but I was determined. Here is a page from one of my notebooks where I would keep a record of special moments that inspired me – yes, cheesy I know, but it helps to dream. I’m not usually a dare-devil sports enthusiast, but before we were married, Fabian Almazan and I went on an abseiling trip in the Blue Mountains. It was one of the scariest but thrilling experiences ever – not to mention taking the plunge to marry my best friend, collaborator, and pianist in my band of 12 years. gleichnamigen Programm aus Werken von Nachwuchskomponist*innen zu Gehör bringt. Dafür braucht es das Zulassen und Sich-Aussetzen auf beiden Seiten, bei Publikum wie Musiker*innen. Aus ästhetischer Verletzlichkeit und Sensibilität kann echte ästhetische Erfahrung entstehen Auf der Suche nach solchen Sensibilitäten und Durchlässigkeiten haben Musiker*innen sich auch immer wieder um neue Ausdrucksformen bemüht, wie es kürzlich wieder in der von Brad Pitt produzierten Wayne-Shorter-Dokumentation Zero Gravity nachzuerleben war. Hier wird erzählt, wie sich die Musiker des zweiten Miles Davis Quintetts selbst vorschrieben, „Anti-Musik“ zu spielen, um sich aus gewohnten Bahnen herauszubringen. Dass das Neue immer auch Bezüge zum Alten enthält, ist dabei nicht falsch, verkennt aber die Notwendigkeit, für jede Zeit immer wieder künstlerisch erlebbar zu machen, was gefühlt, gedacht, gemeint wird. Die Zukunft des Jazz war auch Thema beim Jazzforum Darmstadt im September 2023. Viel wurde hier geredet über Genreverständnis und -abgrenzung, alte und neue Utopien, Herausforderungen für die Jazzszene und den Jazzbegriff – schön war aber auch, dass die Musik Teil von alledem war und Musiker*innen Redebeiträge, aber auch ihre musikalischen Beiträge zur Diskussion beisteuerten – hier ist mir vor allem Kirke Karjas Auftritt im Gewölbekeller des Jazzinstituts im Gedächtnis; wegen der spannenden Musik, aber auch, weil Schulkinder aus Darmstadt anwesend waren, die Kunstwerke zu einer unter einem SunRa-Motto stattfindenden Ausstellung im Institut beigesteuert hatten und sich nun aktueller Musik aus diesem Genre aussetzten: ehrlich zuhörend, tuschelnd, auf den Stühlen rumrutschend, aber trotzdem aufmerksam und mittendrin. In der Begegnung zwischen Musiker*innen und Publikum kann die Musik ihre Kraft entfalten Als Publikum besteht meiner Meinung nach die Aufgabe darin, diese suchenden Bewegungen zuzulassen, sich mit auf die Reise zu begeben. Und gerade Festivals sind hier gefragt, Wagnisse zu programmieren, auch mal Unfertiges zu zeigen, Risiken einzugehen. Auch Präsentationsformate gilt es zu hinterfragen und darüber nachzudenken, wie die Musik in der Begegnung zwischen Musiker*innen und Publikum ihre Kraft entfalten kann und nah an die Menschen herankommt. So wird, denke ich, die Musik, der Jazz, die Kunst der Zukunft gemacht – nah am Menschen und mit der Möglichkeit, im (und den) Alltag zu erschüttern. Die Forschung zu Revolutionen zeigt: Mut und Energie zu Veränderung entsteht auch daraus, dass Menschen merken, dass sie nicht allein sind in ihrem Denken, Fühlen und Meinen. Kultur- und Kunstveranstaltungen als gemeinsam Erlebtes, ja, gemeinsam Er-Atmetes, etwas quasi Spirituelles, können – da bin ich unbelehrbare Ästhetin – Orte solcher Erkenntnisse sein. Nicht umsonst waren Kunst und Spiritualität bzw. Religion in der griechischen Antike eng verbunden. Ein „weiter so“ ist in der jetzigen Situation das eigentlich Riskante Auch die ästhetische Erfahrung des Publikums wird doch erst möglich durch diese Sensibilität und Durchlässigkeit, ja Verwundbarkeit der Künstler*innen. Dadurch können wir selbst verwundbar werden und unser Sein befragen. Und das scheint angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart auch nötig: Klimakrise, immer mehr Ungleichheit in unserer eigentlich reichen Gesellschaft, Erstarken der faschistischen und rassistischen Kräfte. In ihrem gesellschaftlichen Engagement setzt sich Julia Kadel etwa mit dem Kollektiv „Queer Cheer“ – Teil der Festival-Meta-Bewegung „Future Bloom“ – für mehr Empowerment für diskriminierte Gruppen und Räume mit verschiedenen Perspektiven ein, die das Anderssein zulassen und ein Zeigen der eigenen Verletzlichkeit ermöglichen, die ja letztlich alle betrifft. Ein „weiter so“ ist in der jetzigen Situation das eigentlich Riskante; eine Zukunft scheint nur möglich, wenn alle, gerade aber eine weiße Mehrheitsgesellschaft mit ihren Privilegien sich und ihre Lebensweise befragt. Sängerin und Pianistin Cymin Samawatie beschwört in ihrem Duo mit Milian Vogel im Stück Maa shodane nou be nou ein „neues Wir“. Wie kann dies aussehen? Und: Ein Jazzkonzert als Ort einer solchen Befragung? Lassen Sie sich darauf ein und vielleicht hören Sie ja auch in einem der Konzerte, auf die Sie hier so gehen ,The Shape of Jazz to Come‘ und damit auch ein bisschen die Zukunft des Jazz – und Ihre eigene. < „Festivals sind gefragt, Wagnisse zu programmieren, auch mal Unfertiges zu zeigen, Risiken einzugehen.“ „Sängerin und Pianistin Cymin Samawatie beschwört im Stück Maa shodane nou be nou ein ‚neues Wir‘. Wie kann dies aussehen?“ Was war dein größtes Risiko, Sera Kalo? Sera Kalo singt am 25. April im Post Tower The biggest risk I ever took was moving to Germany after finishing college in New York over 14 years ago. I had been there on vacation, made friends, liked the area, but didn’t really understand what moving to another country meant and how it would affect my life! I was young! There was the „honeymoon phase“ where I still felt like a visitor and didn’t mind being on the „outside“ of society as a „stranger“. But as I started rooting myself more and more in Germany (creating community, finding purpose, building a home for myself), the difficulties I would face as a migrant became very obvious and real. At times, the urge to return to the U.S. surfaced, particularly during visits to my family. The customs officer’s „Welcome home“ greeting upon my return felt like a momentary escape from the perpetual feeling of being a foreigner. Yet, with time, I came to cherish three distinct homes: where my family resides, the music I create, and Germany. The experience I’ve had in Germany helped me develop a true and unique sense of self and independence. The hands-on experience of carving a path for myself, learning to listen to MY voice and instinct, and learning to appreciate myself even when in the shadows of others, were profound moments that made me who I am today. This is something that took years to form and only within the last couple of years have I realized the essence of who I am. Music is my medium so that is where I express myself most. It’s where I am free to say all that I want to say and be all that I am. Being a musician isn’t easy, and being a migrant isn’t easy. I sometimes wonder why society doesn’t emphasize greater value on our virtues as movers, great communicators and pioneers. My only response to that is to keep doing what I do and continue to grow and believe in myself. To answer the question again, the most significant risk I’ve ever taken transcends geographical boundaries — it is the unwavering commitment to believe in myself, a risk I confidently embrace everyday. Linda May Han Oh spielt mit ihrem Quartett am 25. April im Post Tower

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