zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2024

15 14 Ich möchte zeigen, in welcher Weise Jazz mit Risiko verknüpft ist. Ich beziehe mich hier auf Jazz im Sinn eines Verfahrens und nicht im Sinn eines Genres. Das heißt, ich gehe nicht darauf ein, wem „Jazz“ als Genre gehört, wer ein Recht hat, den Begriff zu benutzen, sich mit ihm zu identifizieren usw. Ich reagiere damit auf die Tatsache, dass in der Musik Genre, Verwandtschaft und Identität oft auf eine diskriminierende Weise miteinander verbunden sind. In der Musik fungieren Genres allzu oft als Naturalisierung von Diskursen. Mit Risiko ist hier eine mit Unbestimmtheit behaftete Situation gemeint, die bewusst angesteuert wird. Im musikalischen Sinn bedeutet Eingang eines Risikos dann eine musikalische Situation herbeizuführen, deren Verlauf ich nicht abschließend vorhersehen kann. Jazz als Gefüge: Weisen des Zusammenspiels Um Jazz als ein Verfahren zu beschreiben, greife ich auf den Begriff des Gefüges zurück. Er gestattet es, nach relationalen Wirkungen zu fragen, ohne sie vorauszusetzen. Gefüge sind offene Versammlungen und Anordnungen. Ich will verstehen, wie Menschen zusammen Musik im Offenen herstellen. In Gefügen bilden sich Muster des Zusammenspiels divergierender und unterschiedlicher Handlungsformen, die es erlauben, die Offenheit eines musikalischen Prozesses konstruktiv zu halten. Mit dem Gefüge zeigt sich eine überraschende Methode, musikalische Komposition neu zu betrachten. Gefüge sind die Orte, an denen die Komposition ins Funktionieren kommt. Das klingt abstrakt. Daher schwenke ich auf ein anderes Thema über, das, so hoffe ich, den Sachverhalt metaphorisch zu erklären vermag, und das allen sofort einleuchtet: Brot. Elises Brotladen im Gefüge der Stadt: vom konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit Im Gefüge der Stadt ist die Tatsache, dass Existenzweisen von Singularitäten immer plural sind, besonders augenfällig: Ich arbeite als Theoretiker und bin darauf angewiesen, bei der Bäckerin nebenan mein Brot zu bekommen, mit der U-Bahn zum Termin zu gelangen oder im Restaurant um die Ecke ein gutes Mahl zu mir zu nehmen. Gefüge verschalten Existenzweisen nicht nur, sie bringen sie auch hervor. Elise, die Bäckerin nebenan, ist keine Bäckerin im gewöhnlichen Sinn. Sie fährt morgens unterschiedliche, von ihr ausgewählte Bäckereien an und fragt, was vom Vortag an Broten übriggeblieben ist. Dann schaut sie, welche sie davon gut an die Kund*innen weiterverkaufen kann, sammelt alles in ihrem Kastenwagen und bringt die Ware in ihren Laden. Anders als andere Bäckereien öffnet der Laden um 12 Uhr. Die Menschen im Stadtviertel wissen das und haben sich darauf eingestellt. Sie wissen auch, dass sie, wenn sie den Laden betreten, nicht wissen können, welches Sortiment an Brot da sein wird. Elise hat ihren Laden auf wundersame Weise so organisiert, dass sie auf 25 qm Grundfläche alles gut unterbringt, sogar die Kaffeemaschine. Meistens kommen die Menschen einzeln in den Laden. Die anderen warten vor der Tür. Manche unterhalten sich dort beim Warten. In diesem Sinn kann Elise nicht nur die Überproduktion der anderen Bäckereien in eine nachhaltigere Form überführen und den Menschen günstiges Brot anbieten. Der Laden macht auch die Straße in der Erdgeschosszone lebendig und bietet zudem vier Verkäufer*innen ein Einkommen. Keineswegs hatte Elise diese Form eines Ladens geplant. Sie hat einfach die divergierenden Existenzweisen der Bäckereien in der Stadt wahrgenommen, das, was in ihrem Zusammenspiel und ihren Überlagerungen an zeitlichen und räumlichen Rhythmen gelingt, aber auch, welche Lücken es gibt, wo noch keine Verschaltung des Gefüges stattfindet. Und dann hat sie einfach versucht, Verschaltungen herzustellen. Überraschenderweise kann man aus einem solchen konstruktiven Umgang mit der Unbestimmtheit des Bestehenden auch manches für die politische Ökonomie im Hinblick auf Nachhaltigkeit lernen. Die Manager der Brotkonzerne, die wiederum Investoren gehören, schauen nur mit einer Perspektive. Es ist die der Exceltabelle. Elise aber schaut aus vielen Blickpunkten auf das Gefüge des Bäckereiwesens, auf die simultan ablaufenden unterschiedlichen Rhythmen, auf die Qualitäten und Lücken der Momente, die aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure hervorgehen. Sie hat sich eine Wahrnehmungsweise angeeignet, die es ihr erlaubt zu verstehen, wie menschliche und nicht-menschliche Existenzweisen zusammenwirken. Das gilt ebenso für die Mitarbeiter*innen der jeweiligen Bäckereibetriebe, für die Manager*innen, aber auch für die Kund*innen, die bauliche Struktur ihres Ladens, die Verderblichkeit von unterschiedlichen Brotsorten, die Bevölkerungsdichte in dem Viertel, in dem sie ihren Laden betreibt. Man befindet sich dann dort, wo Gefüge von Existenzweisen tatsächlich ins Funktionieren gebracht und Singularitäten verschaltet werden. Genau diese Fähigkeit zur Wahrnehmung ist gefragt, wenn es um eine wertschätzende Anerkennung bestehender Gefüge von Existenzweisen geht. Aber sie fehlt. Die Lieferkette von Elises Laden ist von polyphonen Rhythmen durchsetzt – Vielfalt und Abwechslung sind das Ergebnis Von Elises Laden nimmt die gängige Ökonomie an, es handele sich um einen Teil der Randgebiete des Unbestimmten innerhalb einer teleologischen Produktion. Der Bäckereigroßbetrieb, der außerhalb der Stadt die Landschaft zersiedelt, ist ein Beispiel einer teleologischen Zeittaktung. Alle Arbeit in der Fabrik folgt einem vorgegebenen Rhythmus, ebenso die Standzeit der vielen Autos auf dem Parkplatz vor der Fabrik und die Frequenz der Lieferwagen, die die Ware in die Stadt bringen und an die Filialen ausliefern. Doch die Lieferkette von Elises Laden ist von polyphonen Rhythmen durchsetzt. Das Sortiment wechselt ständig zwischen den jeweils übrig gebliebenen Brotbeständen in den verschiedenen örtlichen Filialen, Produktionen lokaler Kleinbäckereien und Standardproduktionen großer Betriebe. Jeder dieser Betriebe fordert andere Kommunikationsformen, Zeitfenster und Übergaberituale. Wenn man also die Fabrik der Großbäckerei verlässt und sich Elises in vielerlei Hinsicht unkalkulierbarer Arbeit zuwendet, multiplizieren sich die Verschaltungen und ihre Rhythmen. Je weiter man von der Fabrik weggeht und sich Elises Wanderungen zuwendet, umso mehr werden die mannigfaltigen Verschaltungen zwischen polyrhythmischen und industriellen, monogetakteten Gefügen zur Voraussetzung des InsFunktionieren-Kommens von Produktion. Die zentrale Fragestellung, auf die man hier aufmerksam machen sollte, ist, dass diese Verschaltungen meist in der industriellen Lesart des Produzierens, das unsere Wahrnehmungsmuster bestimmt, gar nicht in den Blick geraten. Was fehlt, sind die Folien und Instrumente, anhand derer sich diese Verschaltungen wahrnehmen und weiterschreiben lassen. > Christopher Dell beim Jazzfest Bonn: Hülsmann/Wogram/Dell 27. April, LVR-LandesMuseum Christopher Dell ist Städtebau- und Architekturtheoretiker, Komponist und Musiker. Dell war Professor für Städtebautheorie an der HafenCity Universität Hamburg, der TU München F Ü R E L I S E Der Vibraphonist, Komponist und Architekturtheoretiker Christopher Dell betrachtet Jazz nicht als Genre, sondern als musikalisches Verfahren, das von Offenheit und Unbestimmtheit geprägt ist. Was das mit dem Führen eines nachhaltigen Brotladens zu tun hat und wie durch das kollaborative Ansteuern von Risiken neue Kompositionsformen entstehen, darüber denkt er in diesem Essay nach. und der Universität der Künste, Berlin. Er leitet das ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Berlin.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ2Nzg=