zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2024

22 23 Was war dein größtes Risiko, Julia Kadel? Bettina Bohle ist seit 2013 für verschiedene Jazz-Verbände aktiv (IG Jazz Berlin, BK Jazz, Deutsche Jazzunion), zuletzt leitete sie das Projekt „House of Jazz – Zentrum für Jazz und Improvisierte Musik” (AT). Zum Jazz kam die studierte Gräzistin, Musikwissenschaftlerin und Philosophin über selbst organisierte Hauskonzerte. Mehrere Jahre betrieb sie den Blog JAZZAffine samt zugehörigem Newsletter. Als freie Projektmanagerin hat sie die Initiative Musik beim Aufbau des Deutschen Jazzpreises unterstützt. Wie klingt die Zukunft des Jazz? Eine spannende, große und eigentlich unbeantwortbare Frage. Denn wohin die Reise geht, weiß ja noch niemand so genau. Es gibt Menschen, die tiefer drinstecken in den Szene-Eingeweiden und daher manches schon kennen, was andere erst später zu Gesicht bekommen – Veranstalter*innen, Festivalmacher*innen, Verbandsleute und natürlich die Musiker*innen selbst. Aber welche Faktoren des Lebens, der Gesellschaft, der Strukturen sich wie auf ästhetische Diskurse und Praktiken auswirken, ist eine Frage, die keine Antwort hat – denn unzählige Menschen und Umstände werden mitwirken. Frei nach Aristoteles: Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend. So viele top ausgebildete Menschen sind in Deutschland in der Jazz- und Improvisationsszene unterwegs, so viele internationale Menschen arbeiten und musizieren hierzulande miteinander; die Strukturen sind zwar noch lange nicht ausreichend, aber sie werden immer besser – da kann doch nur etwas Gutes bei herauskommen! Gerade bei Live-Erlebnissen ist die Musik, die unter „Jazz“ läuft, besonders stark und in Streaming- und Post-Corona-Zeiten wird dieser Bereich immer wichtiger. Mag man den Menschen auch nicht vollständig zustimmen, die sagen, dass es „Jazz“ gar nicht auf Platten gibt, weil die Interaktion, der Raum, der unmittelbare Austausch, die Atmosphäre integral dazugehören – am Ende bleibt unzweifelhaft dieser Moment unvergleichlich, wenn ein paar Meter entfernt auf der Bühne sichtbar ein Lächeln über die Gesichter der Musiker*innen huscht, ein Kopfnicken ausgetauscht wird, im gemeinsamen Erleben des musikalischen Geschehens, dessen Teil mensch als Publikum wird. Vielleicht lächelt da auch jemand, weil gerade etwas nicht ganz so funktioniert hat wie geprobt; dieses Miterleben des Entstehens der Musik, die zwar in mehr oder weniger großen Teilen komponiert ist, die aber doch auch immer konstitutiv weiterentwickelbar bleiben will und bleibt, ist auch als Zuhörer*in unglaublich befriedigend. Und es sollte nie unterschätzt werden, welchen Anteil das Publikum für die Atmosphäre hat, in der diese Live-Musik entsteht. Immer wieder berichten mir Musiker*innen davon, wie viel sie davon mitbekommen, was vor der Bühne passiert. Zukunft – eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart Die Frage nach der Zukunft von etwas ist eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart und deren Bewertung. Bewegungen wie der Afrofuturismus von Sun Ra und – neuer – von Janelle Monáe oder auch Sera Kalo entwerfen zwar Zukunftsvisionen, stellen aber eigentlich die Frage u.a. nach der Rolle von und dem Umgang mit Schwarzen Menschen und, im Fall von Monáe und Kalo, (Schwarzen) Frauen* in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Am wichtigsten vielleicht als Musiker*in, zumindest finde ich das als Zuhörende: Fragen, Zuhören, Gewissheiten aufgeben und sich immer wieder Hinauswagen in Unsicherheiten. Hier scheint mir aus einem Zulassen von Verletzlichkeit Spannendes zu entstehen – wie dies auch die Pianistin Julia Kadel mit ihrem Album Powerful Vulnerability in Erinnerung ruft. Oder die Bassistin Linda May Han Oh mit ihrem Projekt The Glass Hours, das entstanden ist, nachdem Oh inmitten der Coronapandemie Mutter geworden war. Aus ästhetischer Verletzlichkeit und Sensibilität kann echte ästhetische Erfahrung entstehen. Ein solches Erlebnis kann für das Publikum auch (zunächst) Verstörung und Vor-den-Kopf-Stoßen bedeuten. Aber gerade etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen: Nicht alles, was wahrgenommen wird, gleich in bekannte Schubladen einzuordnen, kann es möglich machen, diese Schubladen auch einmal zu hinterfragen, neu zu denken und anders zu bauen. Jazz im Sinne einer (improvisierenden) Musik, die einerseits atmosphärisch das Drumherum aufnimmt und verarbeitet, die anderseits aber auch ein Nebeneinander von verschiedenen Ideen ästhetisch möglich und auch greifbar macht, ist dafür prädestiniert und weist damit über sich hinaus – Zukunftsmusik im wahrsten Sinne des Wortes; wie sie auch das Bundesjazzorchester mit seinem > „Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend.“ „Etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen.“ Bettina Bohle leitet seit März 2024 das Jazzinstitut Darmstadt. Für zettbe: befragt sie die Gegenwart durch die Brille der Zukunft. Julia Kadel spielt am 21. April um 15 Uhr im Beethoven-Haus wie klingt ......... der jazz ... ... ......der ... .. ...........zukunft? ....

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