zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2024

Jazz und improvisierte Musik aus Skandinavien sind gleichermaßen authentisch wie erfolgreich – im Rest von Europa und darüber hinaus. Mit einigen Gründen für diesen steten Strom von Musiker*innen und Acts aus Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland hat sich Martin Laurentius befasst. 41 40 Diese Geschichte wäre eine Anekdote geblieben, hätte es nicht zehn Jahre später den Schweden Jan Johansson gegeben. Anfang der Sechzigerjahre beschäftigte sich der Pianist mit den Volksliedern seiner Heimat, um seinen Jazz-Dialekt zu entwickeln. Seine Bearbeitungen waren mit ihrer in Moll gefärbten Harmonik nahe dran an den Originalen und wurden so zur Basis für eine fast vollständig von den amerikanischen Vorbildern losgelöste Improvisationskunst. Das Album, das Johansson 1964 mit seinem Landsmann Georg Riedel am Kontrabass aufnahm, hatte den schlichten und programmatischen Titel Jazz På Svenska – auf Deutsch: Jazz aus Schweden. Mit großen Schritten Etwa zur gleichen Zeit begann in Oslo ein 13-jähriger Junge, sich autodidaktisch das Saxophonspielen beizubringen, nachdem er kurz zuvor Countdown vom JohnColtrane-Album Giant Steps gehört hatte. Der Junge war begeistert von der Exegese des im rasenden Tempo vorgetragenen Materials durch diesen legendären Tenorsaxophonisten – und wusste, dass er auch einmal so spielen wollte. Wie ein Berserker übte Jan Garbarek daraufhin, um irgendwann genauso ausdrucksstark das Tenorsaxophon handhaben zu können wie sein afroamerikanisches Vorbild. Mit 18 trat Garbarek beim Jazzfestival im norwegischen Molde auf. Er spielte gerade einen Solochorus, als die Band hinter ihm zu explodieren schien. Er wandte sich um zum Klavier und sah, dass der Amerikaner George Russell auf dem Piano-Schemel Platz genommen hatte – dessen Begleitung versetzte Garbarek einen Energiestoß nach dem anderen. Am Tag darauf fragte dieser afroamerikanische Expat in Schweden den jungen Norweger, ob er nicht mit ihm zusammenarbeiten möchte. Weil Garbarek noch die Schule beenden wollte, kam es erst einige Monate später zur Studiosession mit dem Pianisten und Komponisten Russell, zusammen nahmen sie in Stockholm dessen Suite New York, NY auf. Und noch etwas brachte der Amerikaner mit: sein „Lydian Chromatic Concept Of Tonal Organisation“. Mit diesem Konzept hatte Garbarek eine Harmonielehre zur Hand, mit der er endlich seine Vorstellung eines modernen Jazz realisieren konnte: als emotionale, energetische und der eigenen Persönlichkeit folgende Improvisationsmusik. In dieser Zeit war Garbarek auch Teil einer Gruppe gleichaltriger Musiker in Oslo. Mit Terje Rypdal (Gitarre), Arild Andersen (Bass) und Jon Christensen (Drums) nahm er 1970 das Album Afric Pepperbird auf, das Anfang 1971 bei der Edition Of Contemporary Music erschien – als siebte Veröffentlichung der als ECM Records bekannten Plattenfirma. Es war das allererste Album eines norwegischen Musikers für dieses Münchner Jazzlabel und markierte den Anfang einer äußerst kreativen Kooperation zwischen ECM, dessen Produzenten Manfred Eicher und Garbarek. Kulturraum Skandinavien So bemerkenswert diese Geschichten aus Schweden und Norwegen auch sind, so sind das nicht die einzigen Gründe, warum der afroamerikanische Jazz dort oben im Norden so erfolgreich sein und zur Grundlage einer eigenen Improvisationsmusik werden konnte. In Skandinavien mit Norwegen (5,5 Millionen Einwohner*innen), Schweden (10 Millionen), Dänemark (5,9 Millionen) und Finnland (5,5 Millionen) leben nicht viele Menschen. Das heißt bis heute für Kulturschaffende aus diesen Ländern, dass sie sich auch im Rest von Europa einen Namen machen müssen, um Erfolg zu haben. Zum anderen haben die Musiker*innen in Nordeuropa schon früh verstanden, dass Skandinavien ein gemeinsamer Kulturraum ist. Bereits in den Sechzigerjahren kam es zum grenzüberschreitenden Austausch. Dänische Musiker wie der Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen oder der Schlagzeuger Alex Riel, die im Kopenhagener Jazzhus Montmartre von amerikanischen Expats wie Ed Thigpen (Drums), Horace Parlan (Piano) oder Dexter Gordon (Saxophon) Jazz spielen gelernt hatten, traten häufig in Oslo auf. Garbarek und Christensen zog es wiederum nach Stockholm, um dort nicht nur mit schwedischen Musiker*innen zu spielen, sondern auch von den Amerikanern vor Ort zu lernen. Zugleich trafen sie in Schweden auf Gleichgesinnte wie den Pianisten Bobo Stenson oder den Bassisten Palle Danielsson. In dieser Zeit lernte auch der finnische Schlagzeuger Edward Vesala die norwegischen Musiker*innen um Garbarek kennen und spielte in den Siebzigerjahren oft in deren Gruppen. Die Erfahrungen, die Vesala dabei sammeln konnte, nahm er mit nach Finnland und legte den Grundstein für eine auch frei improvisierte Musik; das nicht nur als Schlagzeuger und Bandleader, sondern auch als Pädagoge, der mit Workshops finnische Talente förderte – wie zum Beispiel den Gitarristen Raoul Björkenheim oder seine Ehefrau, die Harfenistin und Pianistin Iro Haarla. > Was war dein größtes Risiko, Lars Danielsson? Lars Danielsson spielt mit Liberetto am 19. April in der Bundeskunsthalle At the moment I am finishing a piece for the Gothenburg Symphony Orchestra, and the fact that at the beginning of May about 80 musicians will play this (still unfinished) music feels exciting, but also like a risk. You must trust the process. To play improvised music and Jazz you must dare to take risks and be prepared to stretch your music into unknown „views and landscapes“. There are no wrong notes in improvised music, it all depends on how you play them, and the space you leave between the notes. Somebody said: „It’s more about what you don’t play than what you play.“ In Norwegen und Schweden haben sie einen Namen für ihren Jazz gefunden: „Fjell Jazz“ (norwegisch) oder „Fjäll Jazz“ (schwedisch) – ins Deutsche übersetzt: „Berg Jazz“. Weil bis in die Siebzigerjahre Skandinavien nur selten auf den Tourneeplänen internationaler Musiker*innen zu finden war, hat man aus der Not eine Tugend gemacht und das eigene musikkulturelle Terroir für sich entdeckt – die traditionsreiche Folklore mit ihren so populären Liedern, wie sie auch heute noch überall in den skandinavischen Ländern gesungen werden. Dennoch waren es amerikanische Musiker*innen, die zur Initialzündung wurden für einen eigenständigen Jazz aus Skandinavien. Für Schweden war es der USamerikanische Tenorsaxophonist Stan Getz, der 1951 eine Weile lang in diesem Land lebte und wie ein Popstar gefeiert wurde. Um sich für die Gastfreundschaft der Schwed*innen zu bedanken, bat Getz seine einheimischen Begleitmusiker um ein populäres Stück, das er während seiner Konzerte spielen wollte. Sein Pianist Bengt Hallberg schlug das alte schwedische Volkslied Ack Värmeland, Du Sköna vor, das Getz daraufhin recht ungewöhnlich arrangierte und es harmonisch zwischen D-Moll und F-Dur changieren ließ. Als Dear Old Stockholm hat sein Arrangement dann international Einzug ins Standardrepertoire des Jazz gehalten. Martin Laurentius studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Bonn. Seit 1995 ist er Redakteur und Autor beim Magazin Jazz thing. Bis 2020 arbeitete er als Autor und Moderator für die Jazzredaktion des Westdeutschen Rundfunks. 2017 wurde er auf der Bremer Fachmesse jazzahead! mit dem „Deutschen Jazzjournalisten Preis“ ausgezeichnet. Jazz aus Skandinavien Berge versetzen

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