[2024] Ausgabe 8 jazzfest bonn das magazin zum [2025] Ausgabe 9 Hiromi Philosophie: Neu hören, neu denken Neurologie: Klang, Kopf, Kognition Poesie: Zuhören verändert Feature: Geister und Menschen
Wo und wie hörst du am liebsten Musik? Rainer Böhm 13 James Carter 17 Sarah Chaksad 21 Paolo Fresu 25 Vana Gierig 31 Eva Klesse 37 Marie Kruttli 41 Markus Stockhausen 43 Sofia Will 45 Dominic Miller 46 2 Zum Beispiel bei Rymden sa 27 sept Bundeskunsthalle Zuhören: 3 Vorwort Peter Materna 4 Intro Das Ohr bestimmt das Bewusstsein? Eine Collage von Axel Grundhöfer 10 All Ears – Ganz Ohr Eine Einladung zum Zuhören von Karl Lippegaus 14 Von Geistern und Menschen Ralf Dombrowski über Hiromi und Michael Wollny 18 Free Jazz, Dada und die Kunst des Zuhörens Fabian Junge im Gespräch mit Thomas Krüger 22 Musik für Gehirn und Geist Dr. Stefanie Uhrig über physiologische und psychologische Aspekte von Musik 26 Improvisation trifft Transzendenz Dylan C. Akalin über Jazz als spirituelle Sprache 28 „Danach suche ich in der Kunst“ Maxi Broecking über das Instrument Stimme beim Jazzfest Bonn 32 Wenn auf den Tag die Nacht Ein Gedicht von und Fragen an Marlon Bösherz 34 Ein Blick von draußen ... auf die deutsche Jazzszene von Martin Laurentius 38 Wie ein Fisch im Wasser Olivia Trummer im Interview 40 Luftiger Jazz an Tasten und Knöpfen Christina Bauer über die Akkordeonisten beim Festival 44 Hier hören Sie gut! Die Konzertsäle des Jazzfest Bonn 45 Hinter den Kulissen Die Lieblingskonzerte des Jazzfest-Bonn-Teams 46 Hinweise und Impressum 47 Wir sagen Danke! Unsere Sponsoren und Partner Programmübersicht 48-61 Programm mit Kurzinfos 62 Rätselhafter Jazz Quiz von Birgit Einert 46 Hinweise und Impressum Zu
Liebe Leser*innen, Hören ist ein physiologischer Vorgang, Zuhören ist eine Kunst. Ob zwischen Menschen, als Gesellschaft oder in den Künsten – wer zuhört, schenkt dem Gegenüber Aufmerksamkeit, Zeit, Respekt. Und trägt bei zu einem vertrauensvollen, demokratischen Miteinander. Um die Kunst des Zuhörens geht es in dieser Ausgabe von zettbe:, dem Magazin zum Jazzfest Bonn. Die Autor*innen beleuchten das Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven – musikjournalistisch, neurowissenschaftlich, politisch, poetisch. So öffnen sie Türen zu den Welten der Künstler*innen des diesjährigen Line-Ups. In der Musik gilt: Wer zuhört, hat die Chance, wirklich zu verstehen, tiefer zu fühlen und intensiver zu erleben. Ob als introspektive Reise durch Töne, Klänge und Räume oder als extrovertierter Tanz voller Lust und Leid am (Zusammen-)Leben – durch bewusstes Zuhören erlauben wir der Musik, uns wieder zu verzaubern. Gerade im Jazz ist Zuhören zentral, auch für die Musiker*innen selbst. Sie improvisieren, interagieren, fordern sich heraus und schaffen gemeinsam Neues. Ein Dialog, der nur in einem Zustand absoluter Präsenz und konzentrierten Zuhörens gelingt. Ihn live mitzuerleben ist immer wieder überraschend und bereichernd. Mit dem Programm für das Jazzfest Bonn 2025 schaffen wir dafür Räume, vom Kreuzkirchen-Konzert mit den transzendenten Klängen von Medna Roso bis zum opulenten Fusion-Powerplay von Hiromi’s Sonicwonder. Mit 36 Konzerten, 20 Spieltagen und elf Spielorten ist das Jazzfest Bonn in diesem Jahr größer denn je. Darüber bin ich froh und vor allem dankbar: unseren Förderern, Unterstützern und Ihnen, unserem treuen Publikum. Tauchen Sie mit uns in dieses Erlebnis ein. Besuchen Sie die Konzerte und werden Sie Teil des Festivals. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit dem Magazin und natürlich beim Zuhören, beim Jazzfest Bonn 2025! Ihr Peter Materna Künstlerischer Leiter Zusammenhänge Zusammenklänge Zuhören: 3
4 Der bislang am lautesten gemessene Ton ist der des TUNGUSKA-Meteors, der 1908 in Russland mit einem Schallpegel von sagenhaften 300-315 dB einschlug. DAS OHR ... H
5 E R E N Lärm wird in der logarithmischen Einheit Dezibel (dB) angegeben. Zehn Dezibel mehr bedeuten eine Verzehnfachung der Schallenergie, drei Dezibel eine Verdoppelung. Der röhrende Hirsch bringt es auf 70 dB, die NACHTIGALL in der Stadt, wo sie den Straßenlärm übertönen muss, auf 95 dB. Der POTTWAL singt mit 230 dB.
6 ... BESTIMMT ... N I C H T Der Schweizerische Hörbehindertenverband Sonos befragte 2018 über 100 Passanten, ob sie lieber gehörlos oder blind wären. Nur eine Person gab an, lieber blind zu sein – wegen der Musik.
7 Ö R E N NICHT SEHEN trennt von den Dingen. NICHT HÖREN von den Menschen.* *Dieses Zitat schreiben viele der taubblinden amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller (1880-1968) zu, andere meinen, es sei von Immanuel Kant.
8 ... DAS BEWUSSTSEIN? DAZU GEHÖ
9 R E N
10 Karl Lippegaus ist Musikjournalist, Autor, DJ und Übersetzer. Er arbeitet hauptsächlich für den Deutschlandfunk und schreibt u.a. für Fono Forum. Er ist Autor von „Die Stille im Kopf“, „Diary of Jazz“, „John Coltrane. Eine Biographie“, veröffentlichte Essays über Peter Brötzmann und ist Co-Autor von „Horizons Touched – The Music of ECM.“ Bücher übers Hören gibt es viele – Listenings hat besonders den Jazz im Fokus. In Originalzitaten finden Sie hier einige Gedanken großer Musiker*innen und Denker*innen, die über Hören und Zuhören reflektiert haben. Stellen wir uns ein Café vor, in dem Jason Weiss auf eine illustre Runde trifft: John Cage (Komponist), Martial Solal (Pianist), Sonny Rollins (Saxophonist), Thelonious Monk (Pianist), auf Alex Ross (Autor von The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören), Meredith Monk (Vokalkünstlerin), Carla Bley (Pianistin) und den Philosophen Henry David Thoreau (Autor des Kultbuches Walden). Im Stimmengewirr des Cafés entspinnt sich ein fiktives Gespräch über ihre Erfahrungen mit Hören und Zuhören.
11 VERBUNDEN MIT DER WELT John Cage: Sehen Sie, ich höre keine Musik, wenn ich sie schreibe. Ich schreibe, damit ich etwas höre, was ich noch nicht kenne. Komposition ist wie einem Fremden einen Brief schreiben. Weder höre ich Dinge in meinem Kopf noch habe ich eine Inspiration. Ich brauche jetzt kein Klavier. Ich habe die Sixth Avenue, die Sounds. Ich lausche den Klängen von der Straße. Zuerst einmal muss man das Zuhören lernen. Die Funktion von Musik ist, den Verstand zu verändern, damit er offen für Erfahrungen wird. Jason Weiss: Seltsam, dass wir uns hörend am engsten mit der Welt verbunden fühlen. Vor allem mit anderen Menschen – unserer Familie, Nachbarn, Freunden, Fremden. Indem wir zuhören, entrollen wir ein Band, auf dem steht: Du bist nicht allein, wir sind hier zusammen, auch über weite Distanz. Wie alle Tiefenpraktiken ist Zuhören eine Geduldsübung. Weil es nicht um uns geht – also warte ab. Lass die Musik, die Kunst, die Geste sich in der Zeit entfalten, die es braucht. Zeit ist nicht unser Feind, solange wir zuhören. Wenn wir still im Wald stehen, um die Klänge ringsum wahrzunehmen, bevölkert sich die Stille immer mehr. Eine der Eigenschaften von Klang ist, dass er durch Wände und andere Hindernisse dringt. In der Masse einem Konzert, einer Rede, einem Spiel beiwohnen. Hören wir da wirklich alle dasselbe? Obgleich die fünf Sinne zur Standardausrüstung der menschlichen Spezies zählen, ist unsere Art der Anwendung individuell verschieden. Sonny Rollins: Ich muss experimentieren, um meinen Sound zu finden. Bläst man einen Luftstrom durch ein Instrument mit vibrierendem Mundstück (Rohrblatt), so wird der Strom selbst in Wellen oder Schwingungen versetzt. Ich bin in der Lage, den Sound aus meinem Saxophon im Kopf hervorzubringen (und damit den Sound zu kreieren, den ich hören will) und ihn zu spielen, nachdem ich ihn „gehört“ habe. ZUHÖREN BEDEUTET AUSWÄHLEN Jason Weiss: Neue Forschungen haben spezifische Nervenbahnen im menschlichen Gehirn entdeckt, die auf Musik reagieren. Oder sich „im Musikzimmer“ des Gehirns quasi verbiegen, wie Natalie Angier in Science Times schreibt. Es bestätigt meinen Eindruck, dass wir unterschiedlich auf Musik, Worte und Klänge reagieren. Zuhören heißt ja auch wählen, bewusst oder instinktiv; was lohnt die Anstrengung bei all den Möglichkeiten? Deine Auswahl sagt etwas darüber, wer du bist, wie du dich an dem Tag fühltest. Über deinen Musikgeschmack lässt sich erkennen, welche Gesellschaft du vorziehst und wie du den Akt des Zuhörens verstehst. Zuhören benutzt keine Wörter, um zu sprechen, aber alles andere: Augen, Körper, Wind, Welt … Was kann dieses Hören mehr leisten als zu sagen: In der Tat, ich höre dich, ich höre dich nicht? Vielleicht ist es wie eine Form von Radio – das Nach-Sendern-Suchen – um offen für die Welt zu werden. Henry David Thoreau: Ich wusste immer, dass es in der Natur Töne gibt, die meine Ohren nie hören können, und ich nur dem Vorspiel einer Melodie gelauscht habe. Die Natur zieht sich zurück, sobald ich in sie einzudringen suche. Nie vermochte ich, bis ans Ende zu sehen oder zu hören. „AM KLANG DEINER STIMME ERKENNE ICH DICH“ Meredith Monk: Die Stimme überschreitet die Zeit und den Raum, durch sie finden wir zurück zu den Ursprüngen oder, im Gegenteil, projizieren uns in die Zukunft. Früh wurde mir klar, dass die Stimme auf etwas sehr Altes zurückweist, sozusagen am Anfang von allem, wie eine ursprüngliche Äußerung, ohne Worte, der erste Ausdruck menschlichen Lebens. Da wusste ich, dass meine Kunst sich über die Stimme entwickeln würde. Stimme und Körper sind ein- und dasselbe. Jason Weiss: Am Klang deiner Stimme erkenne ich dich. Ich wähle die Nummer meiner verstorbenen Eltern, um noch einmal vom AB ihre Stimmen zu hören. Zuhören ist eine Form von Aufmerksamkeit. Es passiert sowohl freiwillig als auch unfreiwillig. Man sagt, jemand hört auf seine innere Stimme. Hörst du mich? Hörst du überhaupt zu? Es stimmt, dass die Haut hört. Denk’ an die beiden Liebenden, deren Körper sich wie im Dialog bewegen. Wir alle sind eine gehende, sprechende Trommel, bewegt von Wind, Sonne, Luft, den Blicken anderer, im Gegenzug vibrierend im Dschungel dieser Welt. ALL THAT JAZZ Sonny Rollins: Ja, mein Freund, die Jazzmusik ist eine ungeheure Kraft für das Gute. Martial Solal: Mit geschlossenen Augen spielen ist für einen Pianisten wie mich eine gute Übung. Unser Publikum war schon in den 1940er-Jahren so, wie es heute oft ist! Es hörte mehr mit den Augen als mit den Ohren. Ich denke, sich als Europäer zu entschließen, Jazzmusiker zu werden, setzt eine unermessliche Liebe voraus, un amour anormal, fou! Eine Passion, die ein ganzes Leben lang währt. Wir mussten nicht nur so gut wie, sondern besser als die Amerikaner sein. Sich selbst zuzuhören ist unbequemer, als anderen zu lauschen. Thelonious Monk: Ich schlage manchmal mit dem ganzen Ellbogen aufs Klavier, um einfach einen spezifischen Klang zu hören, ganz bestimmte Akkorde. So viele Töne kann man mit den Händen nicht anschlagen. Manchmal lachen Leute, wenn ich das tue. Yeah, lass sie doch lachen! Etwas zu lachen müssen sie haben. Martial Solal: Ich habe gelernt, an welchen Orten auch immer zu spielen, vom Hinterzimmer einer kleinen Crêperie bis zum Théâtre des Champs-Élysées. Allein an einem Standklavier, mitten in einer riesigen italienischen Arena, vor jedem Publikum. Ein Großteil der Zuhörenden reagiert auf das, was sie sehen und zu hören meinen. Ob man uns liebt oder nicht, hängt nicht von uns ab, sondern vom Geschmack derer, die uns zuhören. ZUHÖREN INSPIRIERT Die Schwarze Jazzpianistin Mary Lou Williams hat oft beschrieben, wie ihre Mutter ihr Talent entdeckte. Mary saß auf ihrem Schoß, an einem kleinen Harmonium, sie war drei oder vier, während Virginia spielte. Ohne Warnung greift Mary mit ihren Babyfingern in die Tasten und spielt Ton für Ton nach, was ihre Mutter gerade gespielt hat. „Ich muss sie so erschreckt haben, dass sie mich fallen ließ, und während ich schrie, lief sie raus, um allen Nachbarn zu sagen: Kommt und hört euch das mal an!“ ›
Wir unterstützen ein vielfältiges Angebot an regionalen Kultur-, Musik- und Sportveranstaltungen. WIR IN BONN FÜR BONN
13 Carla Bley: Ich habe alles gehört, was Schostakowitsch je geschrieben hat; vielleicht hätte es gute Chancen gehabt, in meine Musik einzudringen, aber das passierte nicht. Letztes Jahr hörte ich die komplette Klaviermusik von Beethoven, habe jedoch keine Note daraus verwendet. Es kamen mal Zitate aus einem Popsong wie Jeepers Creepers vor, oder Teile aus einem religiösen Song, den ich schon hörte, bevor ich zehn Jahre alt war. Alex Ross: Der Protagonist in Ralph Ellisons epochalem Roman Der unsichtbare Mann sitzt in seinem Keller am Plattenspieler und lauscht (What Did I Do to Be So) Black and Blue. Er sagt, „Vielleicht liebe ich Louis Armstrong, weil er Poesie daraus machte, unsichtbar zu sein.“ Schönberg instruierte Alma Mahler, auf „Farben, Geräusche, Lichter, Klänge, Bewegungen, Blicke und Gesten“ zu hören. Wie ein Wanderer, der sich im Wald verirrt hat, versucht der Zuhörer, einen Weg durch das Dickicht des Klangs zu finden. IMPROVISATION: EIN RITUS FÜR MUSIKER*INNEN UND ZUHÖRENDE Sonny Rollins: Unsere Stärke und hoffentlich die Essenz von Jazz ist kreative Improvisation. Dieses Attribut macht Jazz umso lebendiger, vitaler und „göttlicher“. Das soll nicht die Dominanz von Jazz gegenüber der sogenannten klassischen Musik bedeuten – schließlich haben Beethoven, Bach und die anderen, deren Musik immer noch lebendig wirkt, auch improvisiert und waren so kreativ wie die heutigen Künstler. Etwas schaffen – aus dem Stegreif – intelligent – intuitiv – mit Feeling und Emotion: Das zeigt den Menschen in seinen besten Momenten – die Natur porträtierend. Jason Weiss: Wenn wir ein Konzert besuchen, haben wir meist zumindest eine Idee, was wir hören, und wer spielen wird. Ist die Musik jedoch improvisiert, wird die Erfahrung offener, weniger definiert, wir suchen nach der Bekanntschaft mit etwas Neuem, so noch nie Gehörtem. Improvisierte Musik ist eine Übung, fast wie ein Ritus, für Musiker*innen und Zuhörende. Sonny Rollins: Wenn wir Tonleitern üben, Patterns über Skalen, müssen wir uns vorbereiten auf die Zeit, wo wir diese vergessen – um sie in ausgedrückte Gedanken zu verwandeln, nicht wie bloß abgerufene musikalische Gleichungen. Wenn wir dann rausgehen und improvisieren, erinnern wir uns, denken nach, studieren und erlauben der Musik, die bereits in der Luft schwebt, uns zu entspannen, während die Töne aus uns und den Hörnern hervorströmen. Musik liegt in der Luft. NACHKLANG: STILLE Henry David Thoreau: Der Mensch, der mir begegnet, ist oft nicht so lehrreich wie das Schweigen, das er bricht. Wir hören die Schwingungen der Musik und strecken unsere Fühler nach den Grenzen des Universums aus. Jeder Klang ist mit der Stille eng verwandt. Er ist eine Blase auf ihrer Oberfläche, die im Nu zerbirst, ein Zeichen der Stärke und Fruchtbarkeit der unterschwelligen Strömung. Er ist eine schwache Äußerung der Stille und unseren Gehörnerven nur dann angenehm, wenn er sich von ihr abhebt. Ende der 1940er-Jahre konzipierte John Cage, der mit Radios live experimentierte, sein „stilles“ Stück, „4’33““, in dem kein einziger Ton erklingt. Kunst ohne Werk. Cage sagt, es war immer sein Lieblingsstück und er hätte an keinem länger gearbeitet. Er erzählt von den Reaktionen des Publikums 1952 bei der Premiere. John Cage: Die Leute begannen untereinander zu flüstern, und einige gingen raus. Sie lachten nicht – sie waren irritiert, als ihnen klar wurde, dass nichts passieren würde, und sie haben es noch nicht vergessen. Sie sind immer noch wütend. Henry David Thoreau: Die Telegrafenharfe ist heute mitten im Regen stark zu hören. Ich lege mein Ohr an den Mast und höre, wie es darin grummelt, und dann schwillt ein klarer Ton, der sich im Inneren des Mastes konzentriert. Der ganze Klang scheint aus dem Holz zu kommen. EPILOG Im Französischen unterscheidet man zwischen „entendre“ und „écouter“, im Englischen zwischen „hear“ und „listen“, im Deutschen haben beide dieselbe Wurzel, hören und zuhören. Das eine wird uns gegeben, das andere will geübt sein. Dafür bieten Musik und speziell die spontane Kunst der Improvisation eine wunderbare Gelegenheit: Sie schärfen unsere Sinne und verbinden uns mit der Welt. Die vielen großen und kleinen Ensembles im diesjährigen Festivalprogramm werden es Ihnen vorführen. In diesem Sinne: Seien Sie ganz Ohr! ‹ Wo und wie hörst du am liebsten Musik, Rainer Böhm? so 11 mai Rainer Böhm Quintet Pantheon Am liebsten höre ich Musik auf Reisen, meistens im Zug. Zu Hause gibt es oft so viele Dinge zu erledigen, dass ich mir selten bewusst die Zeit zum Musikhören nehme. Nebenher kann ich Musik weniger genießen und bevorzuge dann eher die Stille oder Naturgeräusche … Quellen: Amy C. Beal (2011): Carla Bley. University of Illinois Press I Richard Kostelanetz (2003): Conversing with Cage. Routledge I Karl Lippegaus (1991): Die Stille im Kopf. Nieswand I Jacques Ponzio (2023): Monk ABC. Lenka Lente I Sam V.H. Reese (Hg.) (2024): The Notebooks of Sonny Rollins. New York Review Books I Alex Ross (2007): The Rest Is Noise – Listening to the 20th Century. Fourth Estate I Susanne Schaup (Hg.) (1997): Henry David Thoreau: Aus den Tagebüchern. Tewes I Martial Solal (2008): Ma Vie Sur Un Tabouret. Actes Sud I Jean-Louis Tallon (2022): Meredith Monk – Une Voix Mystique. Le mot et le Reste I Jason Weiss (2023): Listenings. Spuyten Duyvil I Textauswahl und Übersetzungen: Karl Lippegaus
14 Ralf Dombrowski, Journalist und Fotograf aus München, berichtet seit 1994 regelmäßig über Jazz, Musik und Kultur für zahlreiche Medien wie die Süddeutsche Zeitung, Jazz thing, das Münchner Feuilleton, den BR und den WDR. sa 24 mai Hiromi’s Sonicwonder Telekom Forum so 29 juni Michael Wollny Trio Opernhaus Auf den ersten Blick könnten Michael Wollny und Hiromi als Künstlerpersönlichkeiten kaum unterschiedlicher sein. Doch verbindet sie der Blick hinter die Kulissen des pianistisch Machbaren. Und beide finden für sich Lösungen, Musik wieder zu verzaubern. Von Ralf Dombrowski vo n geistern u n d m enschen
15 Geist in der Musik Denn damit aus einzelnen Tönen etwas entsteht, was als sinnvoller Zusammenklang empfunden wird, braucht es mehr als das Wissen um die Regeln der Akustik. „Über die Universität hatte ich mit einem digitalen Forschungsprojekt in Lausanne zu tun und konnte dort einen Neurologen darüber ausfragen, was beim Musikmachen oder Komponieren eigentlich im Gehirn passiert“, meint Michael Wollny, Pianist, Klavierprofessor in Leipzig und Klangforscher. „Alles, was man komponiert oder improvisiert, beruht zunächst auf einem Erinnerungsarchiv, das dann im Kurzzeitgedächtnis verhandelt und verknüpft wird. Das fand ich hochinteressant, etwa in Verbindung mit Fragen der Ästhetik. Was ist demnach Klangfarbe, Intuition, persönlicher Stil? Es entspricht erst einmal dem Gefühl, das man etwa beim Improvisieren hat. Dazu kommt der Aspekt, dass Erinnerungen nicht objektiv sind. Wir erinnern uns oft falsch und persönlich geprägt. Und da komme ich zum Geisterbegriff. Was ist ein Geist? Etwas, das in der Vergangenheit passiert ist und auf die Gegenwart strahlt. Das sie prägt, heimsucht, manchmal ungerufen, ungewollt.“ Unterhaltung und Heimsuchung Da wird es spannend, denn die Ideenwelten überschneiden sich. Jazz ist dem Anspruch nach eine Kunst der Freiheit. Er behauptet größtmögliche Individualität der Gestaltung. Die Geister aber scheinen ihn zu lenken: „Als wir dann weiter über Erinnerungsarbeit sprachen, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Warum eigentlich habe ich noch nie an das Musizieren als eine Form von Heimsuchung gedacht? Wenn man nachdenkt, ist man schnell bei Filmmusik, bei Emotionalität, bei Manipulation, lauter solchen Ideen. Außerdem ist Musik immer auch das Erzählen von Geschichten. Und Geistergeschichten machen mir sehr viel Spaß. Sie sind unterhaltsam, lehrreich und dramaturgisch spannend, weil in dem Genre ständig etwas passieren muss, um die Kipppunkte neu zu erzeugen.“ Überträgt man das auf die Musik, ergeben sich neue Konstellationen. Freiheit besteht nicht mehr zwangsläufig im Durchbrechen des Gehabten. Innovation kann dann auch in der Auseinandersetzung mit dem Alten bestehen. Man muss die Geister nicht austreiben, sondern kann mit ihnen leben. Die Musik verändert sich trotzdem. Denn es geht um Entwicklung, nur ohne zwingende Zielvorgabe. Eine andere Freiheit Mit dieser Freiheit allerdings sollte man angstfrei und neugierig umgehen können. Denn sie ist immer ein Experiment mit vielen Unsicherheiten: „Man hat es an vielen Ecken mit Phantomen zu tun. Wenn man beispielsweise versucht, harmonische Prozesse zu abstrahieren, um sie in Hierarchien darstellen zu können, nähert man sich besser von der anderen Seite, von der aus es eigentlich keine Regeln gibt. Denn sobald Regeln gelten, wird es langweilig. Ein irres Spannungsfeld: wie man eine Auflösung wählt, um etwas Inspirierendes, Ungewohntes zu erfahren, und gleichzeitig die Grenze zieht, wann etwas wieder klein oder uninteressant wird. Phantome jedenfalls sind allgegenwärtig. Die Frage ist, wann und wie man sich ihnen stellt.“ Und mit wem. Sein Trio ist für Michael Wollny ein Glücksfall. Der Schlagzeuger Eric Schaefer spielt mit ihm seit 2002, den Anfängen der Band [em]. Der Bassist Tim Lefebvre gehört seit einem guten Jahrzehnt zu seinem Trio. Es ist ein Team, das die Grenzen des Individuellen überschritten hat. Man spielt im Flow gemeinsamer Erfahrung und Empfindung, egal, welche Geister sich nähern. Michael Wollny hat Freiheit gefunden, indem er die Traditionen der eigenen kulturellen Prägung als Optionen und Ausblicke fließend in die Musik integriert. › Sie hatten es gut gemeint, die Aufklärer. Der Mensch solle doch bitte aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraustreten, um endlich Verantwortung für sich zu übernehmen. Der damit eingeleitete Prozess der Moderne veränderte die Vorstellung vom Individuum und seinem Platz in der Welt. Alles sollte greifbar und mit den Mitteln der Vernunft verständlich gemacht werden. Die Entzauberung der Wahrnehmung setzte ein, der Mensch wurde zum Ich ohne Anker im Transzendenten. Das war befreiend auf der einen und beklemmend auf der anderen Seite. Denn mit der Dominanz der Vernunft verschwand die Magie. Und das betraf auch die Musik. Harmonien, Strukturen, Abläufe wurden analysiert, das Erleben und Erfühlen des Ungreifbaren möglichst umfassend ins Laienhafte und Naive zurückgedrängt. Das E sollte das U der Musik dauerhaft übertrumpfen. Aber es funktioniert nicht.
blue notes www.PhoenixReisen.com · Telefon 0228/9260-200 Buchbar auch in Ihrem Reisebüro blue sky blue sea
17 Seine Instrumentalkollegin Hiromi Uehara hingegen wollte sich erst einmal von dem absetzen, was sie schon in Kindertagen mitbekommen hat, wobei auch sie schon früh mit Methoden unterrichtet wurde, die auf eine mentale Öffnung der Wahrnehmung zielten. Farben und Impressionen Hiromi Uehara stammt aus Hamamatsu, einer Hafenstadt in der Präfektur Shizuoka mit Tradition in moderner japanischer Musikkultur, zumindest was Unternehmen wie Yamaha, Roland und Kawai betrifft, die dort ihren Firmensitz haben. Weit über die Region bekannt ist die Stadt für ihre Musikhochschule, wo Hiromi ihre Ausbildung startete. Ihre Lehrerin Noriko Hikida arbeitete viel mit Farben auf den Notenblättern. So deutete sie ihrer Schülerin neben dem eigentlichen Text auch Möglichkeiten der Interpretation an, die darüber hinausreichten. „Spiel rot!“ konnte heißen, sich mit Leidenschaft in ein Stück zu werfen, „spiel blau!“ eher den dezenten Emotionen des Inneren zu folgen. Kein Wunder, dass es bei dieser Haltung zu Musik nicht bei Helden der Klassik bleiben sollte. Bald bekam die junge Pianistin auch Aufnahmen von Erroll Garner oder Oscar Peterson in die Hand gedrückt. Der Weg zum Jazz war vorgezeichnet. Als Hiromi 1999 nach Boston zog, um am Berklee College of Music zu studieren, eröffnete sich ihr zwar eine neue Welt, aber keine, die ihre bisherigen Erfahrungen über den Haufen warf. Dabei halfen ihr neben Leidenschaft und Disziplin auch eine besondere motorische Fähigkeit, Kraft in verblüffender Präzision auf das Instrument zu übertragen. Hiromi wurde zum Inbegriff des Powerplays, eine Virtuosin des Donnerklaviers. Die andere Seite Aber auch bei ihr war nach vielen Konzerten und Projekten mit Jazzkoryphäen von Chick Corea bis Stanley Clarke irgendwann der Punkt erreicht, wo sich ihr pianistisches System weiter öffnete, hin in Richtung eines Quartetts wie Sonicwonder. „Ich habe die Band im Frühjahr 2023 gegründet und für mich liegt die Besonderheit vor allem in der Kombination der Charaktere“, meint Hiromi. „Adam O’Farrill ist ein einzigartiger Trompeter, der sein Instrument mit Effekten und Pedalen anders als üblich klingen lässt. Das ergänzt sich sehr organisch zu den Keyboard-Sounds, die ich einsetze. Schon vom ersten Moment an passte die Chemie und sein Spiel klingt so unangestrengt, dass ich wusste, wir würden wie ein Gehirn zusammenspielen können. Letztlich gilt das ebenso für Hadrien Feraud und Gene Coye. Ich kannte sie aus anderen Bands, Gene zum Beispiel von Stanley Clarke. Er ist ein ungewöhnlich dynamischer Drummer, von sehr fein bis ungemein kraftvoll. Und schon lange bevor ich Sonicwonder gestartet habe, war mir klar, dass ich die elektronischen Seiten des Instruments und der Musik noch mehr erkunden wollte.“ Die Stärken der Elektronik Hiromis Faszination für die synthetischen Klänge und die damit zusammenhängenden Energien haben durchaus ähnliche Wurzeln wie Michael Wollnys Geister. Auch sie erforschte das Klavier als Instrument technisch und mit Blick auf die Jazztradition derart grundlegend, dass sie an Grenzen der musikalischen Darstellbarkeit stieß. Schneller, wilder, opulenter geht nicht mehr, aber klanglich und im Zusammenspiel der Individuen lässt sich noch vieles entdecken: „Ich schreibe inzwischen genau für meine Musiker. Ich kenne ihre Stärken, das ist für mich eine sehr angenehme Ausgangssituation. Aber eigentlich möchte ich gar kein Etikett auf das kleben, was ich mache. Ich mache meine Musik und halte mich nicht mit Gedanken darüber auf, ob ich etwas machen sollte oder nicht. Ich spiele Keyboard und wenn jemand das Fusion nennen will, ist es mir recht. Aber am Ende geht es mir vor allem um die Musik. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen, vor Publikum zu spielen und wieder etwas zurückzubekommen. Es ist der Grund, warum ich das alles mache.“ ‹ Wo und wie hörst du am liebsten Musik, James Carter? so 4 mai James Carter Organ Trio Haus der Geschichte My preference for listening to music of late has been at my workbench while repairing mine and other peoples’ horns! For me, it’s something about the fixing of an instrument knowing it’s going back into potentially making the music I’m listening to that sharpens the ears for nuances I haven’t heard in previous hearings of familiar recordings! Of course, THE ULTIMATE place to listen to music is on the bandstand with my musical personnel interacting and creating a vibe for the audience present to share that cultural communion along with us! Hiromi’s Sonicwonder Michael Wollny Trio
18 Fabian Junge ist Politik- und Musikwissenschaftler, Saxophonist und verantwortet die Kommunikation beim Jazzfest Bonn. free jazz I dada I und die kunst des zuhörens Fabian Junge interviewt Thomas Krüger über Musik, Kunst und die Rolle der Kultur in unsicheren Zeiten. so 4 mai Thomas Krüger & Anke Lucks Fümms Bö Brass Haus der Geschichte Thomas Krüger wurde bekannt als vollbärtiger DDR-Bürgerrechtler, als nackt posierender SPD-Politiker und ehemaliges Mitglied des Berliner Senats. Als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung setzt sich der studierte Theologe seit einem Vierteljahrhundert für die Demokratie und politische Kultur ein. Als junger Mensch war er Musiker in einer Punkband, die Free-Jazz-Szene der DDR hat er miterlebt und -geprägt. Zum Jazzfest Bonn kommt Thomas Krüger als Sprecher der von ihm und der Posaunistin Anke Lucks initiierten Formation Fümms Bö Brass.
19 Herr Krüger, wie hat das angefangen mit Ihnen und dem Jazz? 1976, während meiner Berufsausbildung, hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich war in meiner Klasse für kulturelle Aktivitäten zuständig und organisierte das Abendprogramm bei einer Fahrt nach Weimar und Buchenwald. Zufällig fand dort im Kreiskulturhaus ein Doppelkonzert statt, unter anderem mit Alexander von Schlippenbach, Günter „Baby“ Sommer und Ernst-Ludwig Petrowsky. Ihre avantgardistischen Improvisationen haben mich regelrecht entzündet. Auch wenn sie bei meiner Schulklasse größtenteils auf Ablehnung stießen – für mich war es eine Offenbarung. Ich begann, gezielt nach solcher Musik zu suchen, fand sie in IG-Jazz-Gruppen und vor allem in der Jazzwerkstatt Peitz. Diese Szene war ein Schmelztiegel: Da kamen teils Tausende in dieses Fischerdorf, Handwerker, Techniker, Kirchenleute – eine schräge Mischung, aber sie alle hatten eine hohe Expertise des Zuhörens entwickelt. Es ging nicht um vorgefertigte Erwartungen, sondern um den Genuss des Unvorhersehbaren und die Begeisterung für die expressivsten, ambitioniertesten Improvisationen. Was fasziniert Sie bis heute am Jazz? Für mich ist der Jazz die Königsdisziplin der Improvisation. Sie ist ein künstlerischer und kommunikativer Akt, der einen Raum schafft, in dem Musiker und Publikum miteinander agieren. Es geht nicht nur um Selbstverwirklichung, sondern darum, etwas gemeinsam zu erleben. Das Publikum kann zustimmen oder ablehnen, Begeisterung zeigen oder irritiert sein – genau diese unberechenbare Ambivalenz bedeutet für mich Freiheit. Diese Freiheit war in der DDR nochmal besonders gewichtig. Jazz hieß für mich, Grenzen symbolisch einzureißen – künstlerisch und gesellschaftlich. Man wurde nicht gegängelt, nicht eingeordnet, es war ein Ausbrechen in Optionsräume. Diese Erfahrung war wie ein Trainings- lager für eine offene Gesellschaft. Der Jazz bot einen Kontrast zur autoritären Ordnung der DDR und war ein Raum, in dem Träume und Visionen Platz fanden. Sie schrieben einmal: „Ich habe den Jazz, vor allem die freie Improvisation, in meiner Biografie nicht nur als etwas Widerständiges, sondern auch als etwas Hochpolitisches verstanden.“ Warum sehen Sie Jazz als politisch an? In der politischen wie der kulturellen Bildung geht es darum, zur Persönlichkeitsentwicklung beizutragen und Menschen zur aktiven Teilhabe zu befähigen. Der Jazz zeigt, wie man sich aus Konventionen löst, neue Zusammenhänge entdeckt und Freiheit praktisch erlebt. Nun ist Jazz keine versprachlichte Interaktion und deshalb gilt dies im übertragenen Sinne, aber: Durch die Übung des Zuhörens tritt man heraus aus einer autoritären, binären Interpretation von Welt. Wer diese Musik hört oder spielt, übt sich in Offenheit und der Fähigkeit, die Perspektive anderer zu schätzen. Das war in der DDR so, und auch heute ist es eine Haltung, die dem Erstarken autoritärer und populistischer Strömungen entgegenwirken kann. Sie treten beim Jazzfest Bonn mit der Ursonate von Kurt Schwitters auf. Welche Bedeutung hat dieser Text für Sie? Der Dadaismus hat mich seit den 1980erJahren fasziniert. In der DDR war er kaum publiziert, aber ich habe mich in Katalogen und Sammlungen vertieft. Kurt Schwitters’ Ursonate, ein Lautgedicht, hat mich sofort angesteckt. Ich begann, sie aufzuführen, zunächst im Straßentheater und später bei größeren Veranstaltungen, etwa bei der großen KurtSchwitters-Ausstellung im LindenauMuseum in Altenburg. Für mich ist die Ursonate mehr als ein Spiel mit Sprache. Schwitters zerlegt die Sprache in ihre kleinsten Einheiten – Silben, Buchstaben – und setzt sie mittels der Kompositionsprinzipien einer musikalischen Sonate zu etwas Neuem zusammen. Und das mit pedantischer Perfektion. Das wirkt zunächst absurd, ja verstörend, entfaltet aber eine enorme Energie und fesselt das Publikum jedes Mal. Diese Art der Dekonstruktion war für mich keine einfache Ironisierung der Künste, sondern ein politisches Statement: ein ungezügeltes Durchbrechen aller Konventionen, ähnlich wie der Dadaismus insgesamt. Das passte zu meinem Selbstverständnis in der Bürgerrechtsbewegung, denn ich wollte meine Ansprüche an die Gesellschaft nicht nur mit konventionellen politischen Instrumenten formulieren, sondern künstlerisch artikulieren. Was können wir heute von Schwitters und den Dadaisten lernen? Die Parallelen zu ihrer Zeit sind unübersehbar: Der Dadaismus entstand als Reaktion auf die Gräuel des Ersten Weltkriegs und den aufkommenden Faschismus. Heute erleben wir wieder eine Zeit multipler Krisen – Krieg in Europa, antidemokratische Strömungen. Schwitters’ Ansatz zeigt, wie man mit Kreativität und Energie auf solche Herausforderungen reagieren kann. Die Ursonate ermutigt uns, neue Dimensionen von Sprache, Assoziation und Ausdruck zu entdecken. Und das können wir gut gebrauchen, denn die heutigen politischen Konstellationen und Situationen verlangen von uns Bürgerinnen und Bürgern, aktiv zu werden. Wir alle müssen uns einmischen und an politischen Entscheidungen partizipieren, um diesem Unheil und dem Unsinn etwas Widerständiges entgegenzusetzen. ›
20
Wie verbinden sich im Projekt Fümms Bö Brass Text und Musik? Die Komponistin Anke Lucks bietet dem Schwitters die Stirn: Sie interpretiert die Ursonate als musikalische Sonate, was Schwitters selbst bewusst vermeiden wollte. Daraus entsteht ein spannendes Wechselspiel: Musik und Text treten in ein Battle und ringen permanent um die Hoheit. Die Musiker improvisieren frei, reagieren auf den Text, und ich interagiere wiederum mit ihnen. Und natürlich kommt es zu einem furiosen Ende, wenn die Musiker und Musikerinnen Schwitters’ Idee, das Alphabet rückwärts vorzutragen und dabei immer wieder am letzten Buchstaben zu verzweifeln, ironisieren. Es macht unglaublich viel Spaß, Teil davon zu sein, und jede Aufführung ist einzigartig. Was raten Sie Menschen, die zum ersten Mal solch ein Konzert besuchen? Offenheit ist der Schlüssel. Man muss sich auf die Struktur und die Energie einlassen und vor allen Dingen bereit sein, Spaß damit zu haben. Wir haben das Projekt an den unterschiedlichsten Orten aufgeführt, von Berlin über Brooklyn bis nach Saudi-Arabien, und überall war das Publikum begeistert. Jazz braucht keine gemeinsame Sprache – er funktioniert universell, wenn man bereit ist, zuzuhören. Ist Zuhören eine Kunst? Absolut. Zuhören ist die Grundlage jeder Kommunikation. Es bedeutet, das Gegenüber wahrzunehmen, man kann es verstehen oder anders interpretieren. In einer Welt, in der oft der lauteste Schreihals oder dreisteste Lügner gewinnt, ist Zuhören auch ein solidarischer Akt. Denn wer redet, sich öffentlich artikuliert, zeigt die eigene Verletzlichkeit und fordert das Gegenüber zur Sensibilität auf. Zuhören bedeutet Respekt und Offenheit für die Perspektive der anderen. Und das ist nötig, denn Freiheit funktioniert nur, wenn man nach dem kategorischen Imperativ Kants verfährt, also dem Gegenüber genauso viel Spielraum zumisst, wie man ihn für sich selbst einfordert. ‹ Das Doppelkonzert im Haus der Geschichte findet im Rahmen der Ausstellung Nach Hitler. Die deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus statt. Vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg. Mit jeder Generation verändert sich, wie Menschen mit dieser Geschichte umgehen und wie sie darauf reagieren. Gesellschaft, Politik und Kultur beeinflussen das jeweilige Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit. In der Ausstellung beleuchtet das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland diese unterschiedlichen Blicke der Generationen auf die nationalsozialistische Herrschaft. Am 4. Mai ist die Ausstellung bis 19 Uhr geöffnet. Gäste des Jazzfest-BonnDoppelkonzerts können die Ausstellung vor Konzertbeginn besuchen. Vor dem Konzert ins Museum! 21 Wo und wie hörst du am liebsten Musik, Sarah Chaksad? sa 24 mai Sarah Chaksad Large Ensemble Telekom Forum Nichts kommt dem Erlebnis gleich, Musik in ihrer lebendigsten Form zu erleben – live. Jedes Konzert ist für mich ein einzigartiger Moment, der in einem bestimmten Raum und zu einer besonderen Zeit stattfindet. Die Energie, die zwischen den Künstler*innen und mir als Teil des Publikums pulsiert, kreiert eine Atmosphäre voller Geschichten und Emotionen. Es ist die unmittelbare Kraft der Live-Musik, die mich inspiriert und berührt. Diese besondere Magie ist für mich einzigartig und unvergleichlich. So höre ich Musik am liebsten. Podiumsgespräch vor dem Konzert: Diskurs der Zumutungen – mit Jazz, Dada und moderner Kunst den (Un-)Sinn der Welt erfassen. Mit Dr. Bert Noglik, Jörg Herold, Prof. Karen van den Berg, Götz Lehmann, Begrüßung durch Thomas Krüger und Peter Materna. 4. Mai, 15 Uhr, bpb-Medienzentrum, Adenauerallee 86, 53113 Bonn (gegenüber Haus der Geschichte). Eintritt frei, Voranmeldung erforderlich, Infos unter www.bpb.de/veranstaltungen.
Musik tut gut – es braucht keine Wissenschaft, um das zu verstehen. Doch hinter dieser offensichtlichen Wahrheit verstecken sich eine Menge Fragen: Wie genau macht die Musik das? Was geschieht dabei in unserem Gehirn? Welche psychologischen Mechanismen laufen im Hintergrund ab? Und kann Musik tatsächlich heilsam sein? Dr. Stefanie Uhrig ist Wissenschaftsjournalistin. Die Neurologin schreibt gerne über Gehirn und Psyche. Ihre Klavierkünste lassen nach eigenen Angaben zu wünschen übrig. und Geist Von Dr. Stefanie Uhrig Musik ist für das Gehirn und den Körper mehr als ein Vergnügen: Immer deutlicher zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse, welche wichtigen Aufgaben sie in der Entwicklung übernimmt und wie sie sogar gegen Krankheiten helfen kann. 22 Musi k für Gehi rn
23 DIE „GROSSEN DREI“ DER MUSIK Solche Fragen stellen sich schlaue Köpfe schon seit Jahrhunderten. Vor allem, weil Menschen die positiven Wirkungen von Musik intuitiv spüren und anwenden, sagt der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Gunter Kreutz von der Universität Oldenburg: „Eltern singen den Kindern fleißig etwas vor, weil sie die musikalische Ansprache brauchen.“ Das helfe den Kleinen in ihrer sprachlichen, psychischen und sozialen Entwicklung. Auch die wissenschaftliche Forschung ist sehr an Musik und ihrer Wirkung auf uns Menschen interessiert. Was dabei an Erkenntnissen zusammengekommen ist: ein äußerst buntes und durchmischtes Bild aus bisher kulturell und zeitlich diversen Vorstellungen. Schon 2013 wollte sich eine Forschungsgruppe damit nicht zufriedengeben und genauer definieren, welche Funktionen die Musik erfüllt. Sie schauten sich die Fachliteratur der letzten 50 Jahre an und fanden darin über 500 Gründe dafür, warum Menschen Musik hören. Indem sie ähnliche Nennungen zusammenfassten, kamen sie auf insgesamt 129 Funktionen und baten letztendlich über 800 Testpersonen, die Liste aus ihrer eigenen Perspektive zu bewerten. Die spannende Erkenntnis: Offenbar lassen sich die Funktionen von Musik in nur drei grundlegende Bereiche einteilen. Erstens hilft sie uns, Stimmungen und Emotionen zu regulieren – und damit auch unser Stresslevel. Das lässt sich leicht vorstellen. Wer traurig ist, kann durch Musik das Gefühl ausdrücken, sich beruhigen oder sich sogar aufmuntern. Zweitens helfen die Klänge dabei, sich selbst zu spüren. Was das bedeutet, erklärt Prof. Dr. Susanne Metzner: „Viele Menschen stehen im Alltag nicht mit sich selbst in Kontakt“, sagt die Professorin für Musiktherapie an der Universität Augsburg. „Dann merken sie beispielsweise nicht, wenn sie eine Pause brauchen.“ Musik könne dabei helfen, die eigenen Signale wieder stärker wahrzunehmen. Bei der dritten Grundfunktion geht es um soziale Verbundenheit. „Ob man Musik allein hört oder gemeinsam musiziert – es entsteht immer eine Nähe zwischen den Künstlern und den Zuhörern, eine Gemeinschaft, ein geteiltes Ideal von Kultur“, so Gunter Kreutz. WIE MUSIK UNS BELOHNT Eng verwoben mit diesen psychischen und sozialen Effekten ist, was währenddessen im Gehirn passiert. Das lässt sich etwa mit sogenannten bildgebenden Verfahren nachvollziehen. Dabei bekommen die Testpersonen Musik vorgespielt, während sie in einem funktionalen Magnetresonanztomographen (fMRT) liegen. So können Fachleute sichtbar machen, welche Gehirnregionen die Töne aktivieren. Vielleicht nicht allzu überraschend für Musikfans: Besonders deutlich reagieren Strukturen im Gehirn auf die Klänge, die zum „Belohnungssystem“ gehören. Denn tatsächlich gibt es Netzwerke von Nervenzellen, die aktiv sind und Botenstoffe wie das oft erwähnte Dopamin ausschütten, wenn wir etwas als positiv wahrnehmen. Dieser Mechanismus sorgt dafür, dass wir merken: Davon wollen wir mehr, das tut uns gut. Was leider nicht bedeutet, dass das Belohnungssystem wirklich nur auf gute Dinge reagiert. Es ist beispielsweise auch an der Entstehung von Suchterkrankungen beteiligt, wenn es uns unablässig vorgaukelt: Nikotin, Alkohol oder Computerspiele sind gut, bitte immer und immer mehr davon. Im Zusammenhang mit Musik allerdings vermittelt das Belohnungssystem in der Regel tatsächlich wohltuende Funktionen. „Das ist nicht unbedingt ein spezifischer Effekt und kann genauso gut auftreten, wenn jemand Yoga, Meditation oder Ausdauersport genießt“, sagt Gunter Kreutz. Seiner Erfahrung nach nutzen jedoch viele Menschen die Musik als einen Ausgleich im Alltag. HEILENDE KLÄNGE Lieder hören oder musizieren kann also die Gefühle regulieren, das Ich präsenter machen und soziale Verbindungen stärken. Zudem wird Musik als Therapie bei manchen Erkrankungen eingesetzt. Studien legen nahe, dass dadurch etwa depressive Symptome gelindert werden können. Bei einer Alzheimer-Demenz verbessern solche Interventionen die Lebensqualität und verringern Ängste, die oft mit der Krankheit einhergehen. Auch Menschen mit Autismus, Schlafstörungen, Schizophrenie oder einer Suchterkrankung können offenbar von Musik profitieren. Selbst auf akute und chronische Schmerzen können die Klänge einen Einfluss haben. Oft wird Musiktherapie als Zusatz zu medikamentöser oder Psychotherapie angeboten. Susanne Metzner sieht dabei große Vorteile: „Patientinnen und Patienten finden das oft leichter als beispielsweise ein psychotherapeutisches Gespräch – und es ist sogar niederschwelliger, als Sport zu treiben.“ So fänden mehr Menschen einen Zugang zur Behandlung. „Außerdem werden die Betroffenen dabei intensiver selbst in den Genesungsprozess eingebunden.“ Anstatt die Medikamente oder Therapien passiv über sich ergehen zu lassen, stärken sie mit einer aktiven Teilnahme an einer Musiktherapie ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit. Sie nehmen also direkt wahr, dass sie etwas zu ihrer Heilung beitragen können. BALSAM FÜR JEDES ALTER Musiktherapien eignen sich für junge ebenso wie für ältere Menschen. So untersuchte eine Studie aus 2023, wie Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) darauf reagieren. Die Hälfte der Teilnehmenden nahmen drei Monate lang zweimal pro Woche an der Therapie teil, bei der sie Musik hörten und zusätzlich aktiv improvisierten. Die andere Hälfte ohne Musiktherapie diente als Kontrollgruppe. Dabei zeigte sich: Die musikalischen Sitzungen verringerten die Stressgefühle der Kinder und linderten depressive Symptome. Susanne Metzner ist zudem überzeugt: Musik kann in allen Bereichen des Gesundheitswesens hilfreich sein. Sie leitet deshalb das Projekt AMYGDALA: benannt nach einer Struktur im Gehirn, die unter anderem bei der Verarbeitung von Emotionen und sozialen Interaktionen wichtig ist. Ihr Ziel ist es, verschiedenste medizinische Vorgänge mit einer Musiktherapie zu begleiten und unterstützen. ›
24 Das Rheinland vom Mittelalter bis Morgen Die besondere Dauerausstellung lmb.lvr.de
25 Wo und wie hörst du am liebsten Musik, Paolo Fresu? fr 2 mai Paolo Fresu & Richard Galliano Bonner Münster My favourite place to listen to music does not exist. My favourite place is the place where I feel good at that moment and that can be in one of my houses, in a plane, on a crossing or in a forest. Or in a theatre ... My favourite place is the one that welcomes you at that moment and makes you welcome the music you love. Because music has to be welcomed lovingly, and it has to be accommodated in the right way; in the mind and in the heart. Wie beispielsweise bei Operationen, die in Teilnarkose durchgeführt werden. Hier kann musikgeleitete Resonanzatmung zum Einsatz kommen. Das ist eine besondere Atemtechnik, die von Musik begleitet wird. ZUHÖREN ODER SELBST MUSIZIEREN? Musik kann viele Formen annehmen und wir erleben sie auf verschiedenste Weise. Lieder hören, allein oder mit Freunden, im Club oder auf einem Konzert, mitklatschen, mitsingen, selbst singen, selbst allein oder gemeinsam musizieren – die Möglichkeiten sind endlos. Haben diese verschiedenen Arten, sich mit Musik zu beschäftigen, einen Einfluss auf ihre Wirkung? Natürlich werden weitere Gehirnregionen benötigt, wenn wir uns zusätzlich zum Hören auch bewegen. Wir brauchen Koordination, um zu klatschen, und kognitive Fähigkeiten, um mit den Menschen um uns herum zu interagieren. Aber einmal auf die drei Grundfunktionen von Musik heruntergebrochen: Funktionieren diese besser, wenn wir aktiv Musik machen? Oder reicht das Zuhören für die Emotionsregulation, die soziale Verbindung und das Ich-Gefühl aus? „Es gibt praktisch keinen Unterschied“, sagt Gunter Kreutz. „Wenn ich ein Musikstück anhöre, vollziehe ich die Interpretation und die Komposition aktiv mit.“ Er sieht in einem Lied ein musikalisches Verhalten mit verschiedenen Akteuren, bei dem es auf jede einzelne Person ankommt, auch die Zuhörer. Letztendlich bedeutet das: Solange wir uns auf die Musik einlassen und sie aufmerksam anhören, hat das ähnliche Wirkungen wie selbst ein Instrument zu spielen oder zu singen. VON MÖGLICHEN SCHATTENSEITEN ... Erforscht werden allerdings nicht nur die positiven Effekte. Tatsächlich kann Musik auch schädlich sein. Etwa, wenn Menschen mit Depressionen nicht aus einer Spirale von traurigen Liedern finden oder Gefühle durch aggressive Songs hochgepuscht werden. Teils werden Musikstücke zur Manipulation genutzt, oder sogar als Foltermethode eingesetzt. Die Wissenschaft ist bei vielen dieser Aspekte nicht eindeutig. So argumentieren manche Forschende, dass aggressive Musik nicht unbedingt die Emotionen hochkochen lassen muss. Im Gegenteil könnte sie Menschen sogar ein Ventil für ihre Wut bieten. Und ob traurige Lieder wirklich eine Depression verstärken oder depressive Menschen eher melancholische Klänge anhören, lässt sich schwer trennen. Susanne Metzner betont in diesem Zusammenhang, dass die Musik selbst nicht das Problem ist: „Es geht immer darum, auf welche Art sie eingesetzt wird – man kann auch mit einem guten Medikament Schaden anrichten.“ ... ZU DEN VORTEILEN FÜR DIE GANZE GESELLSCHAFT In den meisten Fällen hat Musik keine negativen Nebenwirkungen und eignet sich für gesunde Leute und für Menschen mit einer Erkrankung als positiver Einfluss. Vor allem ist sie immer und überall erreichbar, sei es als Song im Radio oder als selbst geträllertes Lied. Gunter Kreutz wundert sich nicht, dass ausgerechnet jetzt das Interesse an der Musikkultur besonders aufflammt: „Wir haben multiple Krisen und suchen darin ein Heilsversprechen.“ Dass Musik auch in solchen Momenten hilfreich ist und Menschen sich durch sie besser fühlen, ist für ihn keine Frage. Kritisch sieht er jedoch die mangelnde Förderung der Musik gerade bei jungen Menschen, in Kindergärten, Grundschulen und manchen Familien. Denn es sei nicht so, dass man einfach irgendwann einen Schalter umlege, nach dem Motto ‚Ich singe los und schon geht es mir gut‘. Auch das Bewusstsein für Musik muss erlernt werden. „Es ist eine Generationenaufgabe, allen Menschen angemessenen Zugang zur Musik und vor allem zu gemeinsamem Singen und Musizieren zu verschaffen.“ ‹
Dylan Cem Akalin ist seit 1980 journalistisch für verschiedene Medien tätig, seit 1990 als Redakteur beim General-Anzeiger Bonn. Zudem betreibt er seit 1996 den Musikblog jazzandrock.com. 26 jazz als spirituelle sprache in sakralen räumen Von Dylan C. Akalin Zum ersten Mal in seiner Geschichte veranstaltet das Jazzfest Bonn ein Konzert in der Kreuzkirche. Der Abend mit den Ensembles Medna Roso und Arbenz X Krijger/Osby/Churchill am 16. Mai gilt als Geheimtipp im diesjährigen Programm. Das Cross-Over der Musikkulturen und das Spiel mit dem Klang im sakralen Raum sind nur ein Teil der Faszination, die von diesem Ereignis ausgeht.
27 Die Töne sind so leise, dass man das Öffnen und Schließen der Saxophonklappen und die Atemluft des Spielers hört, die er durch das Mundstück ins Instrument bläst. Die angespielte Tonfolge könnte aus dem Orient herüberwehen, und wenn er dazu noch zum brummenden, leicht pulsierenden Grundton der Shrutibox anfängt zu knurren wie ein Didgeridoo, dann fühlt sich der Zuhörer versetzt an einen eigenartigen, von allem Bekannten abgelegenen Ort. Hayden Chisholm arbeitet gerne mit der Shrutibox, einem traditionellen indischen Musikinstrument, das als tragbares Blasinstrument ähnlich einer kleinen Harmoniumkiste funktioniert und durch einen kontinuierlichen Luftstrom harmonische Bordunklänge erzeugt. Chisholm ist für seinen unverwechselbaren Stil und seinen innovativen Ansatz in der Jazzszene bekannt. Er gehört zu jenen Künstlern, denen das Publikum augenblicklich ruhig und konzentriert zuhört. Geheimnisvolle Klangästhetik Der aus Neuseeland stammende und seit vielen Jahren in Köln und Belgrad lebende Saxophonist, Klarinettist und Komponist verbindet Elemente der Jazzimprovisation mit Einflüssen aus verschiedenen Weltmusiktraditionen und schafft so einen einzigartigen und faszinierenden Klang. Die lyrische und introspektive Qualität seines Spiels, sein tastendes Erforschen neuer Farben und Texturen haben seine Techniken erweitert und feine Nuancen seiner improvisatorischen Herangehensweise freigelegt, die fließend und ausdrucksstark sind und Elemente aus Free Jazz, klassischer Musik und Folk-Traditionen aus der ganzen Welt integrieren. Chisholm hat ein Talent dafür, melodische Linien zu schaffen, die sowohl komplex als auch emotional berührend sind. Dabei zeigt er technische Virtuosität und musikalische Sensibilität. Mit der Formation Medna Roso hat Chisholm zusammen mit Organist Kit Downes und dem kroatischen Vokalensemble PJEV eine geheimnisvolle Klangästhetik entwickelt, die Technik, Intuition und Spiritualität miteinander verbindet. Titel wie Sluzbu sluzi Viden dobar junak (Der Gottesdienst wird von einem guten Helden, Viden, durchgeführt) sind wie geschaffen für die Kreuzkirche Bonn. Jazz in der Kirche: Ein gemeinsames Erlebnis mit dem Publikum Wer die ungewöhnlichen Projekte wie die Conversations des Schweizer JazzSchlagzeugers Florian Arbenz kennt, wird sich nicht wundern, den umtriebigen Musiker auch mal in einer Kirche zu erleben. Sein von einer tiefen Sensibilität getragener Schlagzeugstil reicht von fein nuancierten, fast flüsternden Texturen bis hin zu kraftvoller, energiegeladener Intensität, sein Spiel verbindet technische Präzision mit kreativer Ausdruckskraft und wird sicher mühelos die akustischen Herausforderungen des großen Kirchensaals meistern. Aber ein Jazzquartett? Der Baseler, der auch in der Londoner Jazzszene gut vernetzt ist, kommt mit seinem Projekt Arbenz X Krijger/Osby/ Churchill nach Bonn, also mit dem legendären und stilprägenden New Yorker Saxophonisten Greg Osby, dem niederländischen Hammondorganisten Arno Krijger und der jungen Londoner Sängerin Immy Churchill, die in der internationalen Jazzszene schon mit ihrer ausdrucksstarken Stimme und der Fähigkeit, eine breite Palette von Emotionen zu vermitteln, für Aufsehen gesorgt hat. „Sie ist ein super Link zwischen den Genres. Sie hat ihre eigenen Ansichten und ihre eigene Stimme. Man merkt, sie bewegt sich wie ein Fisch im Wasser, wenn sie mit Jazzleuten zusammen ist. Das ist für mich extrem reizvoll. Sie versteht, um was es geht beim Jazz und bringt andere, jüngere Elemente hinein“, erklärt Arbenz im Gespräch. Immy Churchill repräsentiert die nächste Generation der Jazzszene und verleiht dem Ensemble eine moderne Note. Jazz in der Kirche? Das ist gar nicht so weit hergeholt. Was wäre der Jazz ohne seine Bezüge zu Spirituals und Gospels? Jazz ist für viele Musiker*innen auch eine spirituelle Ausdrucksform. Ein gutes Beispiel ist sicher Coltranes A Love Supreme. Aber man muss nicht gleich eine religiöse Gemeinschaft gründen wie die Coltrane Church in San Francisco. In der Geschichte des Jazz gibt es viele Projekte, die in Kirchen umgesetzt wurden. Erinnert sei an Duke Ellington und seine Sacred Concerts, an Aufnahmen von Keith Jarrett, Barbara Dennerlein, Jan Garbarek. Es hat Jazzer*innen immer wieder in Kirchen gezogen. Vielleicht hängt das mit der Suche nach dem Transzendentalen zusammen. Vielleicht ist es auch einfach nur der wunderbare Sound in einer Kathedrale – ein Raum, der die geistliche Dimension des Jazz in den Vordergrund rückt. „Eine Live-Performance ist ein gemeinsames Erlebnis mit dem Publikum“, erklärt Arbenz. Das Konzert in der Kreuzkirche betrachtet er nicht als Herausforderung, sondern als Chance, die vorhandene Akustik und Atmosphäre für die Musik zu nutzen. „Es ist faszinierend, wie ein sakraler Ort die Interaktion zwischen Musikern und Konzertbesuchern fördern kann. Die Architektur, der Hall und die Stille schaffen einen Raum, der zum Zuhören einlädt.“ Der Jazz, so Arbenz, steht für Freiheit, Offenheit und Improvisation – Werte, die er in sakralen Räumen verstärkt wahrnimmt. Auch wenn er selbst nicht religiös sei, sieht er in Kirchen eine ideale Umgebung für ernsthaft gespielte Musik. „Jazz ist eine universelle Sprache, die Grenzen überschreitet. Sie passt wunderbar an einen Ort, der zum Innehalten und Zuhören geschaffen ist.“ Die Idee, das Konzert in der Kreuzkirche zu spielen, kam vom Intendanten des Jazzfest Bonn, Peter Materna. Für Arbenz passt das perfekt: „Greg liebt akustische Räume, und ich finde es spannend, unser Programm an die besonderen klanglichen Gegebenheiten anzupassen. Die Hammond-Orgel hat ohnehin ihre Wurzeln in der schwarzen Kirche und fügt sich da ideal ein.“ Für Arbenz ist Jazz nicht nur Musik, sondern auch ein Modell für gesellschaftlichen Dialog. „Im Jazz reagieren wir aufeinander, hören zu und schaffen etwas Gemeinsames, das größer ist als wir selbst. In einer Welt, die oft von Spaltung geprägt ist, zeigt unsere Musik, wie kraftvoll Kooperation sein kann.“ ‹ Hayden Chisholm PJEV
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ2Nzg=