11 VERBUNDEN MIT DER WELT John Cage: Sehen Sie, ich höre keine Musik, wenn ich sie schreibe. Ich schreibe, damit ich etwas höre, was ich noch nicht kenne. Komposition ist wie einem Fremden einen Brief schreiben. Weder höre ich Dinge in meinem Kopf noch habe ich eine Inspiration. Ich brauche jetzt kein Klavier. Ich habe die Sixth Avenue, die Sounds. Ich lausche den Klängen von der Straße. Zuerst einmal muss man das Zuhören lernen. Die Funktion von Musik ist, den Verstand zu verändern, damit er offen für Erfahrungen wird. Jason Weiss: Seltsam, dass wir uns hörend am engsten mit der Welt verbunden fühlen. Vor allem mit anderen Menschen – unserer Familie, Nachbarn, Freunden, Fremden. Indem wir zuhören, entrollen wir ein Band, auf dem steht: Du bist nicht allein, wir sind hier zusammen, auch über weite Distanz. Wie alle Tiefenpraktiken ist Zuhören eine Geduldsübung. Weil es nicht um uns geht – also warte ab. Lass die Musik, die Kunst, die Geste sich in der Zeit entfalten, die es braucht. Zeit ist nicht unser Feind, solange wir zuhören. Wenn wir still im Wald stehen, um die Klänge ringsum wahrzunehmen, bevölkert sich die Stille immer mehr. Eine der Eigenschaften von Klang ist, dass er durch Wände und andere Hindernisse dringt. In der Masse einem Konzert, einer Rede, einem Spiel beiwohnen. Hören wir da wirklich alle dasselbe? Obgleich die fünf Sinne zur Standardausrüstung der menschlichen Spezies zählen, ist unsere Art der Anwendung individuell verschieden. Sonny Rollins: Ich muss experimentieren, um meinen Sound zu finden. Bläst man einen Luftstrom durch ein Instrument mit vibrierendem Mundstück (Rohrblatt), so wird der Strom selbst in Wellen oder Schwingungen versetzt. Ich bin in der Lage, den Sound aus meinem Saxophon im Kopf hervorzubringen (und damit den Sound zu kreieren, den ich hören will) und ihn zu spielen, nachdem ich ihn „gehört“ habe. ZUHÖREN BEDEUTET AUSWÄHLEN Jason Weiss: Neue Forschungen haben spezifische Nervenbahnen im menschlichen Gehirn entdeckt, die auf Musik reagieren. Oder sich „im Musikzimmer“ des Gehirns quasi verbiegen, wie Natalie Angier in Science Times schreibt. Es bestätigt meinen Eindruck, dass wir unterschiedlich auf Musik, Worte und Klänge reagieren. Zuhören heißt ja auch wählen, bewusst oder instinktiv; was lohnt die Anstrengung bei all den Möglichkeiten? Deine Auswahl sagt etwas darüber, wer du bist, wie du dich an dem Tag fühltest. Über deinen Musikgeschmack lässt sich erkennen, welche Gesellschaft du vorziehst und wie du den Akt des Zuhörens verstehst. Zuhören benutzt keine Wörter, um zu sprechen, aber alles andere: Augen, Körper, Wind, Welt … Was kann dieses Hören mehr leisten als zu sagen: In der Tat, ich höre dich, ich höre dich nicht? Vielleicht ist es wie eine Form von Radio – das Nach-Sendern-Suchen – um offen für die Welt zu werden. Henry David Thoreau: Ich wusste immer, dass es in der Natur Töne gibt, die meine Ohren nie hören können, und ich nur dem Vorspiel einer Melodie gelauscht habe. Die Natur zieht sich zurück, sobald ich in sie einzudringen suche. Nie vermochte ich, bis ans Ende zu sehen oder zu hören. „AM KLANG DEINER STIMME ERKENNE ICH DICH“ Meredith Monk: Die Stimme überschreitet die Zeit und den Raum, durch sie finden wir zurück zu den Ursprüngen oder, im Gegenteil, projizieren uns in die Zukunft. Früh wurde mir klar, dass die Stimme auf etwas sehr Altes zurückweist, sozusagen am Anfang von allem, wie eine ursprüngliche Äußerung, ohne Worte, der erste Ausdruck menschlichen Lebens. Da wusste ich, dass meine Kunst sich über die Stimme entwickeln würde. Stimme und Körper sind ein- und dasselbe. Jason Weiss: Am Klang deiner Stimme erkenne ich dich. Ich wähle die Nummer meiner verstorbenen Eltern, um noch einmal vom AB ihre Stimmen zu hören. Zuhören ist eine Form von Aufmerksamkeit. Es passiert sowohl freiwillig als auch unfreiwillig. Man sagt, jemand hört auf seine innere Stimme. Hörst du mich? Hörst du überhaupt zu? Es stimmt, dass die Haut hört. Denk’ an die beiden Liebenden, deren Körper sich wie im Dialog bewegen. Wir alle sind eine gehende, sprechende Trommel, bewegt von Wind, Sonne, Luft, den Blicken anderer, im Gegenzug vibrierend im Dschungel dieser Welt. ALL THAT JAZZ Sonny Rollins: Ja, mein Freund, die Jazzmusik ist eine ungeheure Kraft für das Gute. Martial Solal: Mit geschlossenen Augen spielen ist für einen Pianisten wie mich eine gute Übung. Unser Publikum war schon in den 1940er-Jahren so, wie es heute oft ist! Es hörte mehr mit den Augen als mit den Ohren. Ich denke, sich als Europäer zu entschließen, Jazzmusiker zu werden, setzt eine unermessliche Liebe voraus, un amour anormal, fou! Eine Passion, die ein ganzes Leben lang währt. Wir mussten nicht nur so gut wie, sondern besser als die Amerikaner sein. Sich selbst zuzuhören ist unbequemer, als anderen zu lauschen. Thelonious Monk: Ich schlage manchmal mit dem ganzen Ellbogen aufs Klavier, um einfach einen spezifischen Klang zu hören, ganz bestimmte Akkorde. So viele Töne kann man mit den Händen nicht anschlagen. Manchmal lachen Leute, wenn ich das tue. Yeah, lass sie doch lachen! Etwas zu lachen müssen sie haben. Martial Solal: Ich habe gelernt, an welchen Orten auch immer zu spielen, vom Hinterzimmer einer kleinen Crêperie bis zum Théâtre des Champs-Élysées. Allein an einem Standklavier, mitten in einer riesigen italienischen Arena, vor jedem Publikum. Ein Großteil der Zuhörenden reagiert auf das, was sie sehen und zu hören meinen. Ob man uns liebt oder nicht, hängt nicht von uns ab, sondern vom Geschmack derer, die uns zuhören. ZUHÖREN INSPIRIERT Die Schwarze Jazzpianistin Mary Lou Williams hat oft beschrieben, wie ihre Mutter ihr Talent entdeckte. Mary saß auf ihrem Schoß, an einem kleinen Harmonium, sie war drei oder vier, während Virginia spielte. Ohne Warnung greift Mary mit ihren Babyfingern in die Tasten und spielt Ton für Ton nach, was ihre Mutter gerade gespielt hat. „Ich muss sie so erschreckt haben, dass sie mich fallen ließ, und während ich schrie, lief sie raus, um allen Nachbarn zu sagen: Kommt und hört euch das mal an!“ ›
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