13 Carla Bley: Ich habe alles gehört, was Schostakowitsch je geschrieben hat; vielleicht hätte es gute Chancen gehabt, in meine Musik einzudringen, aber das passierte nicht. Letztes Jahr hörte ich die komplette Klaviermusik von Beethoven, habe jedoch keine Note daraus verwendet. Es kamen mal Zitate aus einem Popsong wie Jeepers Creepers vor, oder Teile aus einem religiösen Song, den ich schon hörte, bevor ich zehn Jahre alt war. Alex Ross: Der Protagonist in Ralph Ellisons epochalem Roman Der unsichtbare Mann sitzt in seinem Keller am Plattenspieler und lauscht (What Did I Do to Be So) Black and Blue. Er sagt, „Vielleicht liebe ich Louis Armstrong, weil er Poesie daraus machte, unsichtbar zu sein.“ Schönberg instruierte Alma Mahler, auf „Farben, Geräusche, Lichter, Klänge, Bewegungen, Blicke und Gesten“ zu hören. Wie ein Wanderer, der sich im Wald verirrt hat, versucht der Zuhörer, einen Weg durch das Dickicht des Klangs zu finden. IMPROVISATION: EIN RITUS FÜR MUSIKER*INNEN UND ZUHÖRENDE Sonny Rollins: Unsere Stärke und hoffentlich die Essenz von Jazz ist kreative Improvisation. Dieses Attribut macht Jazz umso lebendiger, vitaler und „göttlicher“. Das soll nicht die Dominanz von Jazz gegenüber der sogenannten klassischen Musik bedeuten – schließlich haben Beethoven, Bach und die anderen, deren Musik immer noch lebendig wirkt, auch improvisiert und waren so kreativ wie die heutigen Künstler. Etwas schaffen – aus dem Stegreif – intelligent – intuitiv – mit Feeling und Emotion: Das zeigt den Menschen in seinen besten Momenten – die Natur porträtierend. Jason Weiss: Wenn wir ein Konzert besuchen, haben wir meist zumindest eine Idee, was wir hören, und wer spielen wird. Ist die Musik jedoch improvisiert, wird die Erfahrung offener, weniger definiert, wir suchen nach der Bekanntschaft mit etwas Neuem, so noch nie Gehörtem. Improvisierte Musik ist eine Übung, fast wie ein Ritus, für Musiker*innen und Zuhörende. Sonny Rollins: Wenn wir Tonleitern üben, Patterns über Skalen, müssen wir uns vorbereiten auf die Zeit, wo wir diese vergessen – um sie in ausgedrückte Gedanken zu verwandeln, nicht wie bloß abgerufene musikalische Gleichungen. Wenn wir dann rausgehen und improvisieren, erinnern wir uns, denken nach, studieren und erlauben der Musik, die bereits in der Luft schwebt, uns zu entspannen, während die Töne aus uns und den Hörnern hervorströmen. Musik liegt in der Luft. NACHKLANG: STILLE Henry David Thoreau: Der Mensch, der mir begegnet, ist oft nicht so lehrreich wie das Schweigen, das er bricht. Wir hören die Schwingungen der Musik und strecken unsere Fühler nach den Grenzen des Universums aus. Jeder Klang ist mit der Stille eng verwandt. Er ist eine Blase auf ihrer Oberfläche, die im Nu zerbirst, ein Zeichen der Stärke und Fruchtbarkeit der unterschwelligen Strömung. Er ist eine schwache Äußerung der Stille und unseren Gehörnerven nur dann angenehm, wenn er sich von ihr abhebt. Ende der 1940er-Jahre konzipierte John Cage, der mit Radios live experimentierte, sein „stilles“ Stück, „4’33““, in dem kein einziger Ton erklingt. Kunst ohne Werk. Cage sagt, es war immer sein Lieblingsstück und er hätte an keinem länger gearbeitet. Er erzählt von den Reaktionen des Publikums 1952 bei der Premiere. John Cage: Die Leute begannen untereinander zu flüstern, und einige gingen raus. Sie lachten nicht – sie waren irritiert, als ihnen klar wurde, dass nichts passieren würde, und sie haben es noch nicht vergessen. Sie sind immer noch wütend. Henry David Thoreau: Die Telegrafenharfe ist heute mitten im Regen stark zu hören. Ich lege mein Ohr an den Mast und höre, wie es darin grummelt, und dann schwillt ein klarer Ton, der sich im Inneren des Mastes konzentriert. Der ganze Klang scheint aus dem Holz zu kommen. EPILOG Im Französischen unterscheidet man zwischen „entendre“ und „écouter“, im Englischen zwischen „hear“ und „listen“, im Deutschen haben beide dieselbe Wurzel, hören und zuhören. Das eine wird uns gegeben, das andere will geübt sein. Dafür bieten Musik und speziell die spontane Kunst der Improvisation eine wunderbare Gelegenheit: Sie schärfen unsere Sinne und verbinden uns mit der Welt. Die vielen großen und kleinen Ensembles im diesjährigen Festivalprogramm werden es Ihnen vorführen. In diesem Sinne: Seien Sie ganz Ohr! ‹ Wo und wie hörst du am liebsten Musik, Rainer Böhm? so 11 mai Rainer Böhm Quintet Pantheon Am liebsten höre ich Musik auf Reisen, meistens im Zug. Zu Hause gibt es oft so viele Dinge zu erledigen, dass ich mir selten bewusst die Zeit zum Musikhören nehme. Nebenher kann ich Musik weniger genießen und bevorzuge dann eher die Stille oder Naturgeräusche … Quellen: Amy C. Beal (2011): Carla Bley. University of Illinois Press I Richard Kostelanetz (2003): Conversing with Cage. Routledge I Karl Lippegaus (1991): Die Stille im Kopf. Nieswand I Jacques Ponzio (2023): Monk ABC. Lenka Lente I Sam V.H. Reese (Hg.) (2024): The Notebooks of Sonny Rollins. New York Review Books I Alex Ross (2007): The Rest Is Noise – Listening to the 20th Century. Fourth Estate I Susanne Schaup (Hg.) (1997): Henry David Thoreau: Aus den Tagebüchern. Tewes I Martial Solal (2008): Ma Vie Sur Un Tabouret. Actes Sud I Jean-Louis Tallon (2022): Meredith Monk – Une Voix Mystique. Le mot et le Reste I Jason Weiss (2023): Listenings. Spuyten Duyvil I Textauswahl und Übersetzungen: Karl Lippegaus
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