15 Geist in der Musik Denn damit aus einzelnen Tönen etwas entsteht, was als sinnvoller Zusammenklang empfunden wird, braucht es mehr als das Wissen um die Regeln der Akustik. „Über die Universität hatte ich mit einem digitalen Forschungsprojekt in Lausanne zu tun und konnte dort einen Neurologen darüber ausfragen, was beim Musikmachen oder Komponieren eigentlich im Gehirn passiert“, meint Michael Wollny, Pianist, Klavierprofessor in Leipzig und Klangforscher. „Alles, was man komponiert oder improvisiert, beruht zunächst auf einem Erinnerungsarchiv, das dann im Kurzzeitgedächtnis verhandelt und verknüpft wird. Das fand ich hochinteressant, etwa in Verbindung mit Fragen der Ästhetik. Was ist demnach Klangfarbe, Intuition, persönlicher Stil? Es entspricht erst einmal dem Gefühl, das man etwa beim Improvisieren hat. Dazu kommt der Aspekt, dass Erinnerungen nicht objektiv sind. Wir erinnern uns oft falsch und persönlich geprägt. Und da komme ich zum Geisterbegriff. Was ist ein Geist? Etwas, das in der Vergangenheit passiert ist und auf die Gegenwart strahlt. Das sie prägt, heimsucht, manchmal ungerufen, ungewollt.“ Unterhaltung und Heimsuchung Da wird es spannend, denn die Ideenwelten überschneiden sich. Jazz ist dem Anspruch nach eine Kunst der Freiheit. Er behauptet größtmögliche Individualität der Gestaltung. Die Geister aber scheinen ihn zu lenken: „Als wir dann weiter über Erinnerungsarbeit sprachen, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Warum eigentlich habe ich noch nie an das Musizieren als eine Form von Heimsuchung gedacht? Wenn man nachdenkt, ist man schnell bei Filmmusik, bei Emotionalität, bei Manipulation, lauter solchen Ideen. Außerdem ist Musik immer auch das Erzählen von Geschichten. Und Geistergeschichten machen mir sehr viel Spaß. Sie sind unterhaltsam, lehrreich und dramaturgisch spannend, weil in dem Genre ständig etwas passieren muss, um die Kipppunkte neu zu erzeugen.“ Überträgt man das auf die Musik, ergeben sich neue Konstellationen. Freiheit besteht nicht mehr zwangsläufig im Durchbrechen des Gehabten. Innovation kann dann auch in der Auseinandersetzung mit dem Alten bestehen. Man muss die Geister nicht austreiben, sondern kann mit ihnen leben. Die Musik verändert sich trotzdem. Denn es geht um Entwicklung, nur ohne zwingende Zielvorgabe. Eine andere Freiheit Mit dieser Freiheit allerdings sollte man angstfrei und neugierig umgehen können. Denn sie ist immer ein Experiment mit vielen Unsicherheiten: „Man hat es an vielen Ecken mit Phantomen zu tun. Wenn man beispielsweise versucht, harmonische Prozesse zu abstrahieren, um sie in Hierarchien darstellen zu können, nähert man sich besser von der anderen Seite, von der aus es eigentlich keine Regeln gibt. Denn sobald Regeln gelten, wird es langweilig. Ein irres Spannungsfeld: wie man eine Auflösung wählt, um etwas Inspirierendes, Ungewohntes zu erfahren, und gleichzeitig die Grenze zieht, wann etwas wieder klein oder uninteressant wird. Phantome jedenfalls sind allgegenwärtig. Die Frage ist, wann und wie man sich ihnen stellt.“ Und mit wem. Sein Trio ist für Michael Wollny ein Glücksfall. Der Schlagzeuger Eric Schaefer spielt mit ihm seit 2002, den Anfängen der Band [em]. Der Bassist Tim Lefebvre gehört seit einem guten Jahrzehnt zu seinem Trio. Es ist ein Team, das die Grenzen des Individuellen überschritten hat. Man spielt im Flow gemeinsamer Erfahrung und Empfindung, egal, welche Geister sich nähern. Michael Wollny hat Freiheit gefunden, indem er die Traditionen der eigenen kulturellen Prägung als Optionen und Ausblicke fließend in die Musik integriert. › Sie hatten es gut gemeint, die Aufklärer. Der Mensch solle doch bitte aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraustreten, um endlich Verantwortung für sich zu übernehmen. Der damit eingeleitete Prozess der Moderne veränderte die Vorstellung vom Individuum und seinem Platz in der Welt. Alles sollte greifbar und mit den Mitteln der Vernunft verständlich gemacht werden. Die Entzauberung der Wahrnehmung setzte ein, der Mensch wurde zum Ich ohne Anker im Transzendenten. Das war befreiend auf der einen und beklemmend auf der anderen Seite. Denn mit der Dominanz der Vernunft verschwand die Magie. Und das betraf auch die Musik. Harmonien, Strukturen, Abläufe wurden analysiert, das Erleben und Erfühlen des Ungreifbaren möglichst umfassend ins Laienhafte und Naive zurückgedrängt. Das E sollte das U der Musik dauerhaft übertrumpfen. Aber es funktioniert nicht.
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