19 Herr Krüger, wie hat das angefangen mit Ihnen und dem Jazz? 1976, während meiner Berufsausbildung, hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Ich war in meiner Klasse für kulturelle Aktivitäten zuständig und organisierte das Abendprogramm bei einer Fahrt nach Weimar und Buchenwald. Zufällig fand dort im Kreiskulturhaus ein Doppelkonzert statt, unter anderem mit Alexander von Schlippenbach, Günter „Baby“ Sommer und Ernst-Ludwig Petrowsky. Ihre avantgardistischen Improvisationen haben mich regelrecht entzündet. Auch wenn sie bei meiner Schulklasse größtenteils auf Ablehnung stießen – für mich war es eine Offenbarung. Ich begann, gezielt nach solcher Musik zu suchen, fand sie in IG-Jazz-Gruppen und vor allem in der Jazzwerkstatt Peitz. Diese Szene war ein Schmelztiegel: Da kamen teils Tausende in dieses Fischerdorf, Handwerker, Techniker, Kirchenleute – eine schräge Mischung, aber sie alle hatten eine hohe Expertise des Zuhörens entwickelt. Es ging nicht um vorgefertigte Erwartungen, sondern um den Genuss des Unvorhersehbaren und die Begeisterung für die expressivsten, ambitioniertesten Improvisationen. Was fasziniert Sie bis heute am Jazz? Für mich ist der Jazz die Königsdisziplin der Improvisation. Sie ist ein künstlerischer und kommunikativer Akt, der einen Raum schafft, in dem Musiker und Publikum miteinander agieren. Es geht nicht nur um Selbstverwirklichung, sondern darum, etwas gemeinsam zu erleben. Das Publikum kann zustimmen oder ablehnen, Begeisterung zeigen oder irritiert sein – genau diese unberechenbare Ambivalenz bedeutet für mich Freiheit. Diese Freiheit war in der DDR nochmal besonders gewichtig. Jazz hieß für mich, Grenzen symbolisch einzureißen – künstlerisch und gesellschaftlich. Man wurde nicht gegängelt, nicht eingeordnet, es war ein Ausbrechen in Optionsräume. Diese Erfahrung war wie ein Trainings- lager für eine offene Gesellschaft. Der Jazz bot einen Kontrast zur autoritären Ordnung der DDR und war ein Raum, in dem Träume und Visionen Platz fanden. Sie schrieben einmal: „Ich habe den Jazz, vor allem die freie Improvisation, in meiner Biografie nicht nur als etwas Widerständiges, sondern auch als etwas Hochpolitisches verstanden.“ Warum sehen Sie Jazz als politisch an? In der politischen wie der kulturellen Bildung geht es darum, zur Persönlichkeitsentwicklung beizutragen und Menschen zur aktiven Teilhabe zu befähigen. Der Jazz zeigt, wie man sich aus Konventionen löst, neue Zusammenhänge entdeckt und Freiheit praktisch erlebt. Nun ist Jazz keine versprachlichte Interaktion und deshalb gilt dies im übertragenen Sinne, aber: Durch die Übung des Zuhörens tritt man heraus aus einer autoritären, binären Interpretation von Welt. Wer diese Musik hört oder spielt, übt sich in Offenheit und der Fähigkeit, die Perspektive anderer zu schätzen. Das war in der DDR so, und auch heute ist es eine Haltung, die dem Erstarken autoritärer und populistischer Strömungen entgegenwirken kann. Sie treten beim Jazzfest Bonn mit der Ursonate von Kurt Schwitters auf. Welche Bedeutung hat dieser Text für Sie? Der Dadaismus hat mich seit den 1980erJahren fasziniert. In der DDR war er kaum publiziert, aber ich habe mich in Katalogen und Sammlungen vertieft. Kurt Schwitters’ Ursonate, ein Lautgedicht, hat mich sofort angesteckt. Ich begann, sie aufzuführen, zunächst im Straßentheater und später bei größeren Veranstaltungen, etwa bei der großen KurtSchwitters-Ausstellung im LindenauMuseum in Altenburg. Für mich ist die Ursonate mehr als ein Spiel mit Sprache. Schwitters zerlegt die Sprache in ihre kleinsten Einheiten – Silben, Buchstaben – und setzt sie mittels der Kompositionsprinzipien einer musikalischen Sonate zu etwas Neuem zusammen. Und das mit pedantischer Perfektion. Das wirkt zunächst absurd, ja verstörend, entfaltet aber eine enorme Energie und fesselt das Publikum jedes Mal. Diese Art der Dekonstruktion war für mich keine einfache Ironisierung der Künste, sondern ein politisches Statement: ein ungezügeltes Durchbrechen aller Konventionen, ähnlich wie der Dadaismus insgesamt. Das passte zu meinem Selbstverständnis in der Bürgerrechtsbewegung, denn ich wollte meine Ansprüche an die Gesellschaft nicht nur mit konventionellen politischen Instrumenten formulieren, sondern künstlerisch artikulieren. Was können wir heute von Schwitters und den Dadaisten lernen? Die Parallelen zu ihrer Zeit sind unübersehbar: Der Dadaismus entstand als Reaktion auf die Gräuel des Ersten Weltkriegs und den aufkommenden Faschismus. Heute erleben wir wieder eine Zeit multipler Krisen – Krieg in Europa, antidemokratische Strömungen. Schwitters’ Ansatz zeigt, wie man mit Kreativität und Energie auf solche Herausforderungen reagieren kann. Die Ursonate ermutigt uns, neue Dimensionen von Sprache, Assoziation und Ausdruck zu entdecken. Und das können wir gut gebrauchen, denn die heutigen politischen Konstellationen und Situationen verlangen von uns Bürgerinnen und Bürgern, aktiv zu werden. Wir alle müssen uns einmischen und an politischen Entscheidungen partizipieren, um diesem Unheil und dem Unsinn etwas Widerständiges entgegenzusetzen. ›
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