zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2025

29 Das Jazzfest Bonn zeigt die spannende Vielfalt des aktuellen Jazzgesangs. Generationenübergreifend werden Sänger*- innen zu hören sein, die noch ganz am Anfang oder mitten in ihrer Karriere stehen, aber auch Legenden des vokalen Jazz, wie die jetzt 83-jährige Norma Winstone. Als Grande Dame des britischen und europäischen Jazzgesangs wird sie mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Stimmumfang als virtuose Vokalistin gefeiert. Schon 1968 setzte sie ihre Stimme wie ein Saxophon ein und trat in London mit Rahsaan Roland Kirk auf. Sie interpretierte Werke des britischen Komponisten Benjamin Britten und lehrte an der Royal Academy of Music. Beim diesjährigen Festival wird sie in einem sehr besonderen Duo-Setting mit dem britischen Pianisten Kit Downes zu hören sein, über das auch Martin Laurentius hier im Magazin berichtet. China Moses: Die Gesamtheit der Schwarzen Musik Hinter jeder Künstlerin und jedem Künstler steht eine persönliche Geschichte und die Geschichten, die sie mit ihren Songs erzählen. Sie schöpfen aus der Tradition der großen Legenden des Jazz, gehen aber über Genregrenzen hinweg und öffnen ihre Musik vielfältigen Einflüssen. So sieht sich die amerikanische, seit ihrer Kindheit in Paris lebende Sängerin China Moses, die das Jazzfest Bonn eröffnet, als Sängerin der gesamten Schwarzen Musiktradition von Blues über Jazz bis Soul und Hip-Hop. Die 1978 in Los Angeles geborene und in Paris lebende Tochter der Jazzsängerin Dee Dee Bridgewater erzählt auf ihrem neuen Album Itʼs Complicated mit ihrer außergewöhnlich warmen Stimme sehr persönliche Erlebnisse von Verlust und Hoffnung. So geht es in dem Song Itʼs Ok um ihre Gefühle während ihrer Scheidung. Im Interview sagt sie: „Ich nenne es meinen Selbstakzeptanz-Blues.“ Nach dem Pariser Bataclan-Anschlag schrieb sie den Song Silence. Nina Simone habe gesagt, es sei die Pflicht der Künstler*innen, die gegenwärtige Zeit zu beschreiben und sie zu repräsentieren, so Moses. In Another Night singt sie über die Einsamkeit nach Konzerten. „Viele Leute sehen mich als eine extrovertierte, lächelnde Person, was ich auch bin. Ich bin ein sehr positiver Mensch, aber nach dem Applaus auf der Bühne kommt die Einsamkeit. Ich musste lernen, damit umzugehen. Ich glaube, danach suche ich in der Kunst. Ich suche nach Liedern und nach Musik, die mir helfen, meine verschiedenen Emotionen zu durchleben, diese verschiedenen Temperaturen des Lebens.“ China Moses kam durch ihre Eltern früh in Kontakt mit Musik und Kunst. Ihr Vater gründete die erste afroamerikanische Theatergruppe, die im von Rassentrennung geprägten Süden kostenlos Theater aufführte. „Ich war also mit Menschen wie Amiri Baraka oder Archie Shepp zusammen“, erzählt sie. Ihre Mutter war oft auf Tourneen und abwesend. Es sei jedoch wunderbar gewesen zu sehen, wie sie als unabhängige Künstlerin ihr eigener Chef war. „Sie hat mir gezeigt, wie es möglich ist, sich als Frau weiterzuentwickeln und sich in einer Welt zurechtzufinden, die von Männern dominiert wird; vor allem als Schwarze Frau in einer Welt, die hauptsächlich von weißen Männern definiert wird.“ China Moses ist Autodidaktin, sie hatte keine klassische Ausbildung und begann als Radiomoderatorin. Auch heute moderiert sie noch drei Radiosendungen, Late Night China Moses in London, Made in China in Paris und Jazz Adjacent in New York. Ihr großes Vorbild ist die Sängerin Dinah Washington: „Dinah war kompromisslos sie selbst. Man erkennt ihre Stimme sofort, egal ob es sich um einen Popsong, einen Jazzsong oder einen Blues handelt. Frauen waren in der Schwarzen amerikanischen Community und in der Jazzwelt so lange Zeit darauf beschränkt, nur zu singen, dabei waren viele dieser Sängerinnen auch großartige Musikerinnen. Dinah Washington spielte unglaublich gut Klavier, auch Sarah Vaughan und Carmen McRae. Aber sprechen wir darüber? Nina Simone war auch als Pianistin und Arrangeurin ein Genie. Ich wende mich also an diese Frauen, um meinen Seelenfrieden zu finden und jeden einzelnen Tag zu überstehen. Denn da draußen ist es kompliziert, und manchmal braucht man Menschen, die einem den Weg weisen können.“ Camille Bertault: Chansoniere der europäischen Szene Eine weitere in Paris lebende Sängerin ist die 1986 dort geborene Camille Bertault. Sie kommt mit ihrem Album Bonjour mon Amour nach Bonn, das die französische Chanson-Tradition mit Improvisation, eigenen Liedtexten und Gedichten verbindet, die ebenfalls von persönlichen Erfahrungen handeln. Ihre musikalischen Einflüsse reichen von klassischen Komponisten wie Chopin und Skrjabin bis hin zu brasilianischer Musik. Doch Bertault möchte sich nicht auf eine Stilistik festlegen. Im Interview erklärt sie: „Meine Arbeit basiert darauf, Geschichten zu erzählen. Sie sind vielleicht nicht überall zu verstehen, weil ich auf Französisch singe, aber die Musik spricht für sich, denke ich. Sie ist eine Mischung aus Improvisation, Theater und Tanz. Ich liebe es, alles zusammenzufügen. Ich möchte einfach etwas schaffen, das mir sehr nahesteht.“ Inspiriert von ihrem Vater, einem Toningenieur, der Jazz liebt und selbst Klavier spielt, studierte sie Jazzgesang und Improvisation. Mit 19 Jahren sang sie einen eigenen Text zu John Coltranes Giant Steps, den sie auf YouTube hochlud und der mehr als 360.000 mal angeklickt wurde. Auf ihrem Debüt-Album En Vie sang sie Vokalisen zu Standards von Herbie Hancock, Wayne Shorter oder Duke Ellington. › Norma Winstone Becca Stevens Andreas Schaerer

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