33 1. Poesie lesen und der Musik zuhören: Welche Gemeinsamkeiten gibt es und worauf kommt es an? Wenn ich Gedichte lese, durchströmen meinen Körper ganz ähnliche Gefühlsregungen, und die Bilder rauschen wirkungsvoll durch meine innere Sicht, wie bei der intensiven Teilnahme an Alben von Charles Mingus, Miles Davis, Nico, den Television Personalities, Nick Drake oder Martha and the Muffins. Drei der sechs Künstler*innen schaffen es, mich sowohl musikalisch als auch textlich tief zu berühren. Es gibt großartige Lyriker*innen, die musizieren und singen sowie sehr poetische Musik, die ohne Text auskommt. 2. Welcher Botticelli-Baby-Song ist aus deinem Gedicht Wenn auf den Tag die Nacht entstanden? Zunächst schreibe ich meine Texte ohne das Bedürfnis, sie zu singen. In der Zeit, die verstreicht, während die Band nicht zusammenkommt, entstehen viele Gedichte. Wenn wir uns treffen, um an Liedern zu arbeiten, übersetze ich eine kleine Vorauswahl, kürze, schreibe sie um, lasse manches weg oder fusioniere ein Gedicht mit einem anderen. Es steckt also immer viel Erfahrung in jedem Liedtext. Die Stimmung, die das genannte Gedicht trägt, hat mich besonders kurz nach den Aufnahmen zu unserem aktuellen Album Boah begleitet. Die Lieder sind quasi vergangene Erfahrungen, die nicht mehr zu ändern sind, jedoch nachbewertet und umgedacht wurden. 3. Gab es in deinem Leben Momente, in denen das Zuhören – sei es musikalisch oder zwischenmenschlich – eine besondere Wendung herbeigeführt hat? Immer und immer wieder. Erkenntnisse häufen sich ... Es ist erstaunlich, wie oft Mitmenschen davon überrascht sind, wenn ihnen zugehört wird. Es tut manchmal so gut, die Geschichten anderer zu hören und ganz darin zu versinken – dabei die eigene Geschichte kurz zu vergessen oder sie in der anderen Person wiederzufinden. Zuhören brilliert den Spiegel, schärft das Denken und offenbart Lösungen. Es schult auch die Hingabe an die eigene Erzählbereitschaft. Es kann vereinen und helfen, eigene Ideen, Tendenzen und Wesenszüge zu entdecken, und es kann Neues hervorbringen. Zumindest löst es etwas aus – Rücksicht, Respekt und Lernen schwingen mit, wenn man es schafft, anderen zuzuhören. Meine bis dato einschneidendsten Erlebnisse des Zuhörens in der Musik waren Erkenntnisse über die Themen in: 1. Nick Drake Songs: Seine Musik fegte mich schon sehr früh hinweg und die Texte verstand ich erst später. Sein OEuvre wurde zu einer Säule meines inneren Verständnisses. 2. Dan Treacy: Er ist rundum und vom ersten Hören ein ganz bestimmter Ausdruck meiner Selbst. 3. Antonio Vivaldi: Ihn mochte ich immer schon, aber seit ein paar Jahren hege ich eine regelrecht homoerotische Zuneigung, wann immer ich seinen Werken zuhöre. 4. Nico: Sie ist in mir wie eine sehr gute Freundin aus Kindertagen, die ich liebe und um die ich mir Sorgen mache, die ich aber in all ihren Entscheidungen unterstützen würde, auch in der Destruktion. ‹ DREI FRAGEN AN MARLON BÖSHERZ
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