zettbe: das magazin zum jazzfest bonn 2025

35 Jazz ist seit seinen Anfängen vor gut 100 Jahren in New Orleans eine transkulturelle Musik, in der kulturelle Identität durch die Vermischung verschiedener Traditionen entsteht. Dieser Prozess wird durchs Zuhören in Gang gesetzt, um Landes- und Sprachgrenzen wie selbstverständlich zu überbrücken und so eine Musik zu erschaffen, die universell und überall verständlich ist. Brücken bauen Eine, die diesen Prozess mit ihrer Vita verkörpert, ist die 1941 in London geborene Norma Winstone. Eindrucksvoll belegt zum Beispiel durch Winstones Beteiligung am Free Jazz Meeting BadenBaden 1970. Es war bereits das fünfte der vom SWF-Jazzredakteur JoachimErnst Berendt initiierten Musiklabore, bei denen europäische und US-amerikanische Free-Jazz-Pioniere aufeinandertrafen und lernten, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Der afroamerikanische Saxophonist Albert Ayler war gerade auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Ihm zu Ehren „komponierten“ die Vokalistinnen Norma Winstone und Karin Krog mit dem Schlagzeuger John Stevens ein Stück, dessen Melodie auf einer schlichten Quarte basierte, wie sie auch von Ayler hätte stammen können. Die junge Britin zeigte sich damals schon als profunde Kennerin afroamerikanischer Jazzkultur, die souverän eine Brücke zwischen dem emotionalen „Cry“ des Free Jazz aus den USA und einer frei improvisierten Musik aus Europa zu schlagen wusste. Dieser Moment ist fast 55 Jahre her. Seitdem ist die 1941 in London geborene Winstone zu einer Jazzkünstlerin geworden, die sich nicht von Traditionen vereinnahmen lässt, sondern ein Vokabular für eine eigene Sprache im Jazz entwickelt hat. Ob im Trio Azimuth mit ihrem Landsmann John Taylor und dem Kanadier Kenny Wheeler, als Sängerin mit dem farbenfrohen Orchesterjazz von Colin Towns oder mit der kammermusikalischen Improvisationskunst im Trio mit Glauco Venier und Klaus Gesing: Stets folgt Winstone ihrem eigenen Melos, das sie harmonisch und rhythmisch eigenwillig einzurahmen versteht. Entgrenzte Musik Aktuell tritt Winstone im Duo mit Kit Downes auf, mit dem sie vergangenes Jahr das Album Outpost Of Dreams bei ECM Records veröffentlicht hat. Mit ihrem Klavier und Orgel spielenden Landsmann zelebriert sie eine ästhetisch und stilistisch entgrenzte Musik. „Ich bin nur eine Sängerin. Ich liebe Melodien, Worte und Improvisation“, sagt die heute 83-Jährige lapidar. „Einen Unterschied zwischen dem Jazz aus Deutschland und aus anderen Ländern Europas kann ich nicht wirklich entdecken – mit Ausnahme vielleicht bei den Skandinaviern, die gerne die heimische Folklore zur Grundlage ihrer Jazzmusik machen. Auch meine Art Jazz zu singen, hat etwas von Folklore.“ Ihr Duopartner bringt eine andere Perspektive auf den Jazz aus Deutschland mit – eine, die sich aus seinem eigenen, künstlerischen Umfeld speist. Der Pianist ist 45 Jahre jünger als Winstone. Mit seinem britisch-schwedischen Trio Enemy schöpft er aus dem Vollen einer aktuellen Musik, in der Schlieren von Hip-Hop, Pop oder Funk ebenso zu erkennen sind wie ein harmonisch und rhythmisch abgehangener Modern Jazz. Mittlerweile lebt Downes in Berlin, wo er längst zur vitalen Szene gehört. Deshalb sind für ihn Jazz und improvisierte Musik aus Deutschland so heterogen wie die vielen Musiker:innen von überall her, die in der deutschen Hauptstadt anzutreffen sind. „Petter Eldh, Michael Thieke, Marta Warelis, Tony Buck, Camila Nebbia, Otis Sandsjö, Lucy Railton, Christian Lillinger, Annie Bloch, Håvard Wiik, Sofia Borges, Ronny Graupe und viele mehr“, zählt Downes spontan einige Berliner Kolleg:innen auf. Diese Diversität zeigt sich auf vielen Festivals. „Ich als Brite in Deutschland genieße es, auf diesen Jazzfestivals zu spielen, die ein nicht unwesentlicher Teil der deutschen Szene geworden sind“, ist der Pianist überzeugt. Transatlantischer Dialog Auch der 1970 in London geborene Kanadier Seamus Blake ist Expat in Deutschland und in Köln zu Hause. Mit dem italienischen Pianisten Alessandro Lanzoni hat der Saxophonist 2024 ein Duo-Album mit dem mystisch-poetischen Titel From Angels veröffentlicht, das mit variantenreichem, eloquent dialogisierendem Modern Jazz überzeugt. Für Blake, der in seiner New Yorker Zeit Mitglied der Mingus Big Band war und mit Größen wie John Scofield, Michael Brecker, Joshua Redman, Dave Douglas und Kenny Barron zusammenspielte, hat Jazz aus Deutschland auch eine avantgardistische Komponente. „Der deutsche ,Sound‘ besticht durch seine vielen Einflüsse aus der klassischen Musik“, unterstreicht der Saxophonist. „Er hat die Tendenz zu komplexen und dunklen Akkorden, die weit weniger traditionell klingen als bei uns Amerikanern. Und viele Musiker aus Deutschland experimentieren mit den Möglichkeiten der elektronischen Musik.“ Furchtlos und dringlich Seit fast 15 Jahren gibt es das Trio der 1991 in der französischsprachigen Schweiz geborenen Pianistin Marie Kruttli. Mit dem Bassisten Lukas Traxel und dem Schlagzeuger Gautier Garrigue spielt sie eine furchtlose, in ihrer Dringlichkeit faszinierende Improvisationsmusik. Wie Downes und Blake lebt Kruttli heute in Deutschland – genauer: seit zehn Jahren in Berlin. Im Grunde mag die Pianistin keine Kategorien für Musik. Doch den Hauptstadt-Jazz liebt sie, weil der so kantig klingt und sich so mutig zeigt. „Manchmal beeinflusst das meine eigene Musik“, so Kruttli, „manchmal auch nicht. Es ist immer wieder toll, die unglaubliche Energie des Jazz aus Berlin hautnah spüren zu können.“ Paneuropäische Connection Auch Kruttlis Landsfrau Sarah Chaksad hat als Komponistin und Saxophonistin zu einer eigenen Sprache im Jazz gefunden. Das demonstriert die in Basel lebende Musikerin mit ihrem paneuropäisch besetzten Large Ensemble, das ihren subtil-insistierenden Orchesterjazz in Szene setzt und unter anderem mit den Deutschen Julia Hülsmann und Eva Klesse besetzt ist. „Wenn ich an Jazz aus Deutschland denke, kommen mir die beeindruckende Kreativität und Innovation der dort lebenden Musikerinnen und Musiker in den Sinn“, sagt die 1983 im schweizerischen Wohlen geborene Chaksad. „Ich denke aber auch an die deutsche Label-Landschaft, die eine bemerkenswerte Vielfalt an kreativen Stimmen und eigenständigen Klängen hervorbringt. Ich denke an die vielen Konzertlokale und Festivals, an die engagierten Veranstalterinnen und Veranstalter und, als Fan der großen Klangkörper, natürlich an die Rundfunkorchester.“ › Marie Kruttli Trio: am 21. Mai im LVR-LandesMuseum Seamus Blake mit Alessandro Lanzoni: am 18. Mai im Collegium Leoninum

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