Berge versetzen

von Martin Laurentius

Jazz und improvisierte Musik aus Skandinavien sind gleichermaßen authentisch wie erfolgreich – im Rest von Europa und darüber hinaus. Mit einigen Gründen für diesen steten Strom von Musiker*innen und Acts aus Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland hat sich Martin Laurentius befasst.

In Norwegen und Schweden haben sie einen Namen für ihren Jazz gefunden: „Fjell Jazz“ (norwegisch) oder „Fjäll Jazz“ (schwedisch) – ins Deutsche übersetzt: „Berg Jazz“. Weil bis in die Siebzigerjahre Skandinavien nur selten auf den Tourneeplänen internationaler Musiker*innen zu finden war, hat man aus der Not eine Tugend gemacht und das eigene musikkulturelle Terroir für sich entdeckt – die traditionsreiche Folklore mit ihren so populären Liedern, wie sie auch heute noch überall in den skandinavischen Ländern gesungen werden.

Dennoch waren es amerikanische Musiker*innen, die zur Initialzündung wurden für einen eigenständigen Jazz aus Skandinavien. Für Schweden war es der USamerikanische Tenorsaxophonist Stan Getz, der 1951 eine Weile lang in diesem Land lebte und wie ein Popstar gefeiert wurde. Um sich für die Gastfreundschaft der Schwed*innen zu bedanken, bat Getz seine einheimischen Begleitmusiker um ein populäres Stück, das er während seiner Konzerte spielen wollte. Sein Pianist Bengt Hallberg schlug das alte schwedische Volkslied Ack Värmeland, Du Sköna vor, das Getz daraufhin recht ungewöhnlich arrangierte und es harmonisch zwischen D-Moll und F-Dur changieren ließ. Als Dear Old Stockholm hat sein Arrangement dann international Einzug ins Standardrepertoire des Jazz gehalten.

Diese Geschichte wäre eine Anekdote geblieben, hätte es nicht zehn Jahre später den Schweden Jan Johansson gegeben. Anfang der Sechzigerjahre beschäftigte sich der Pianist mit den Volksliedern seiner Heimat, um seinen Jazz-Dialekt zu entwickeln. Seine Bearbeitungen waren mit ihrer in Moll gefärbten Harmonik nahe dran an den Originalen und wurden so zur Basis für eine fast vollständig von den amerikanischen Vorbildern losgelöste Improvisationskunst. Das Album, das Johansson 1964 mit seinem Landsmann Georg Riedel am Kontrabass aufnahm, hatte den schlichten und programmatischen Titel Jazz På Svenska – auf Deutsch: Jazz aus Schweden.

Mit großen Schritten

Etwa zur gleichen Zeit begann in Oslo ein 13-jähriger Junge, sich autodidaktisch das Saxophonspielen beizubringen, nachdem er kurz zuvor Countdown vom John-Coltrane-Album Giant Steps gehört hatte. Der Junge war begeistert von der Exegese des im rasenden Tempo vorgetragenen Materials durch diesen legendären Tenorsaxophonisten – und wusste, dass er auch einmal so spielen wollte. Wie ein Berserker übte Jan Garbarek daraufhin, um irgendwann genauso ausdrucksstark das Tenorsaxophon handhaben zu können wie sein afroamerikanisches Vorbild.

Jan Garbarek live beim Jazzfest Bonn 2021

Mit 18 trat Garbarek beim Jazzfestival im norwegischen Molde auf. Er spielte gerade einen Solochorus, als die Band hinter ihm zu explodieren schien. Er wandte sich um zum Klavier und sah, dass der Amerikaner George Russell auf dem Piano-Schemel Platz genommen hatte – dessen Begleitung versetzte Garbarek einen Energiestoß nach dem anderen. Am Tag darauf fragte dieser afroamerikanische Expat in Schweden den jungen Norweger, ob er nicht mit ihm zusammenarbeiten möchte. Weil Garbarek noch die Schule beenden wollte, kam es erst einige Monate später zur Studiosession mit dem Pianisten und Komponisten Russell, zusammen nahmen sie in Stockholm dessen Suite New York, NY auf. Und noch etwas brachte der Amerikaner mit: sein „Lydian Chromatic Concept Of Tonal Organisation“. Mit diesem Konzept hatte Garbarek eine Harmonielehre zur Hand, mit der er endlich seine Vorstellung eines modernen Jazz realisieren konnte: als emotionale, energetische und der eigenen Persönlichkeit folgende Improvisationsmusik.

In dieser Zeit war Garbarek auch Teil einer Gruppe gleichaltriger Musiker in Oslo. Mit Terje Rypdal (Gitarre), Arild Andersen (Bass) und Jon Christensen (Drums) nahm er 1970 das Album Afric Pepperbird auf, das Anfang 1971 bei der Edition Of Contemporary Music erschien – als siebte Veröffentlichung der als ECM Records bekannten Plattenfirma. Es war das allererste Album eines norwegischen Musikers für dieses Münchner Jazzlabel und markierte den Anfang einer äußerst kreativen Kooperation zwischen ECM, dessen Produzenten Manfred Eicher und Garbarek.

Kulturraum Skandinavien

So bemerkenswert diese Geschichten aus Schweden und Norwegen auch sind, so sind das nicht die einzigen Gründe, warum der afroamerikanische Jazz dort oben im Norden so erfolgreich sein und zur Grundlage einer eigenen Improvisationsmusik werden konnte. In Skandinavien mit Norwegen (5,5 Millionen Einwohner*innen), Schweden (10 Millionen), Dänemark (5,9 Millionen) und Finnland (5,5 Millionen) leben nicht viele Menschen. Das heißt bis heute für Kulturschaffende aus diesen Ländern, dass sie sich auch im Rest von Europa einen Namen machen müssen, um Erfolg zu haben.

Zum anderen haben die Musiker*innen in Nordeuropa schon früh verstanden, dass Skandinavien ein gemeinsamer Kulturraum ist. Bereits in den Sechzigerjahren kam es zum grenzüberschreitenden Austausch. Dänische Musiker wie der Bassist Niels-Henning Ørsted Pedersen oder der Schlagzeuger Alex Riel, die im Kopenhagener Jazzhus Montmartre von amerikanischen Expats wie Ed Thigpen (Drums), Horace Parlan (Piano) oder Dexter Gordon (Saxophon) Jazz spielen gelernt hatten, traten häufig in Oslo auf. Garbarek und Christensen zog es wiederum nach Stockholm, um dort nicht nur mit schwedischen Musiker*innen zu spielen, sondern auch von den Amerikanern vor Ort zu lernen. Zugleich trafen sie in Schweden auf Gleichgesinnte wie den Pianisten Bobo Stenson oder den Bassisten Palle Danielsson.

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Der schwedische Pianist und Komponist Jacob Karlzon live beim Jazzfest Bonn 2023 – „Nordic Noir“

In dieser Zeit lernte auch der finnische Schlagzeuger Edward Vesala die norwegischen Musiker*innen um Garbarek kennen und spielte in den Siebzigerjahren oft in deren Gruppen. Die Erfahrungen, die Vesala dabei sammeln konnte, nahm er mit nach Finnland und legte den Grundstein für eine auch frei improvisierte Musik; das nicht nur als Schlagzeuger und Bandleader, sondern auch als Pädagoge, der mit Workshops finnische Talente förderte – wie zum Beispiel den Gitarristen Raoul Björkenheim oder seine Ehefrau, die Harfenistin und Pianistin Iro Haarla.

Unter einem Banner

Auch die folgenden Generationen skandinavischer Musiker*innen berufen sich gleichermaßen auf das eigene, musikkulturelle Umfeld wie sie sich mit der weit zurückreichenden Tradition des US-Jazz beschäftigen.

Wie zum Beispiel Helge Lien, der mit seinem Trio am 26. April zum Jazzfest nach Bonn kommt. Für den 1975 im norwegischen Hamar geborenen Pianisten gibt es zwei Traditionsstränge im Jazz: Während die amerikanische Linie durch ein virtuoses Musikantentum hervorsticht, zeichnet den skandinavischen Strang eher ein introspektives Soundsetting aus. Wie kunstvoll Lien und seine Musiker diese zwei Linien miteinander verknüpfen, zeigten sie bereits auf dem 2008 erschienenen Album Hello Troll, das ja im Titel auf ein Fabelwesen aus der nordischen Mythologie verweist.

Rebekka Bakken ist anders.

Durch den Jazz sei sie erst zur Künstlerin geworden, sagte die Norwegerin einmal. Eine Jazzsängerin im herkömmlichen Sinne ist sie schon lange nicht mehr. Vielmehr ist sie eine Meisterin in der Kunst, fremde Songs so zu singen, dass sie wie eigene klingen. Auch das ist Improvisation. Nach Bonn bringt sie am 20. April die Lieder ihres aktuellen Albums Always On My Mind mit – Songperlen wie Red Right Hand von Nick Cave oder (Everything I do) I do It For You von Bryan Adams.

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Noch mal anders klingt Viktoria Tolstoy (ja, sie ist die Ur-Urenkelin des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi). Eigentlich müsste man die 1974 geborene Schwedin „Dame Viktoria“ nennen, weil sie so etwas wie die einzig richtige Vocal-Diva im skandinavischen Jazz ist. Zu ihrem Auftritt in Bonn am 26. April kommt sie mit ihrem Quintett. Weil sie mit den Musikern schon lange zusammenspielt, glückt ihr der Mix aus großem Gefühl und leiser Lyrik, enormer Leidenschaft und inniger Introspektion. Auch dafür steht Skandinavien.

Makiko Hirabayashi ist Absolventin des Rytmisk Musikkonservatorium in Kopenhagen, wo die in Tokio geborene Pianistin seit 1990 lebt. Seit mehr als 20 Jahren gibt es ihr Trio mit dem Dänen Klavs Hovman (Bass) und der US-Dänin Marilyn Mazur (Drums). So lässt sich vielleicht das intuitiv-engmaschige Interplay dieser drei Musiker*innen am ehesten erklären: Im Flow der Improvisation braucht es weder Absprachen noch Zeichen, um der gemeinsamen Musik Form und Gestalt zu geben. Auch das werden sie beim Jazzfest Bonn am 21. April demonstrieren.

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Martin Laurentius

studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Soziologie in Bonn. Seit 1995 ist er Redakteur und Autor beim Magazin Jazz thing. Bis 2020 arbeitete er als Autor und Moderator für die Jazzredaktion des Westdeutschen Rundfunks. 2017 wurde er auf der Bremer Fachmesse jazzahead! mit dem „Deutschen Jazzjournalisten Preis“ ausgezeichnet.

Hilfe zur Selbsthilfe

Seit geraumer Zeit ist es auch Wunsch der Politik, sich als skandinavische Länder zusammenzuschließen und zu zeigen, welchen Stellenwert Kunst und Kultur dort haben. Gleichzeitig fühlt man sich verantwortlich dafür, dass die Kulturschaffenden ein Auskommen haben, um ohne große finanzielle Sorgen arbeiten zu können. Das gilt auch und gerade für Norwegen, das seit den Sechzigerjahren einen Teil des Geldes durch das Nordsee- Öl in die Förderung von Kultur und seit Mitte der Neunziger auch den Jazz steckt. Rund 13 Millionen Euro ist dem norwegischen Staat jährlich seine Jazzförderung wert. Dieser Betrag teilt sich auf die verschiedenen Akteur*innen und Institutionen auf und schafft ihnen ein stabiles, finanzkräftiges Umfeld.

Zudem versucht man in Skandinavien, regionale Eigenheiten der jeweiligen Jazzszenen ins kulturpolitische Portfolio aufzunehmen. Zum Beispiel Finnland. Vor zehn Jahren ging das Kollektiv „We Jazz“ an den Start. Weil die Politik die verschiedenen Aktivitäten von „We Jazz“ – Plattenfirma und Vertrieb, Festival, Clubkonzerte, Magazin etc. pp. – finanziert, hat man so als eine Art Hilfe zur Selbsthilfe eine Struktur geschaffen, über die finnische Jazzmusiker*innen ihr Geld verdienen, ohne ihre künstlerische Unabhängigkeit zu verlieren.

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Oder Dänemark. Seit 1986 gibt es in Kopenhagen das staatliche Rytmisk Musikkonservatorium mit seiner Ausbildung in aktueller Musik wie Jazz, Rock, Pop, Hip- Hop und elektronische Musik. Seit einer Weile nimmt dieses Konservatorium am Erasmus-Programm der Europäischen Union teil. Darüber wird nicht nur ein kreativer Austausch zwischen europäischen und dänischen Musiker*innen ermöglicht, sondern die internationalen Studierenden tragen auch maßgeblich zur Verbreitung der skandinavischen „Open Mindedness“ in ganz Europa bei.

Schweden hat noch einmal einen ganz eigenen Weg gefunden. Zwar hat man mit „Svensk Jazz“ eine Organisation, die sich um die Belange der schwedischen Jazzmusiker*innen kümmert, und mit „Export Music Sweden“ eine staatliche Einrichtung, die Jazz im Ausland repräsentiert. Doch da ist auch der Posaunist Nils Landgren, der seit 30 Jahren gleichsam als Produzent für die Plattenfirma ACT Music die schwedische Szene nach Talenten sichtet. Nicht wenige internationale Karrieren schwedischer Musiker*innen nahmen über ihn ihren Anfang – allen voran die des 2008 tragisch verunglückten Pianisten Esbjörn Svensson, der mit seinem Trio e.s.t. auch im Mutterland des Jazz, den USA, für Furore gesorgt hatte. Auch so lassen sich mit „Fjäll Jazz“ Berge versetzen.

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