Der Raum macht die Musik
Von Tomy Brautschek
Mit dem Bonner Münster und dem Collegium Leoninum hat das Jazzfest Bonn zwei neue Spielstätten im Programm. Beides sind Kirchengebäude und eröffnen dem Festival dadurch einen neuen Erfahrungsraum. Doch was macht Konzerte in einer Kirche so besonders? Und wie lässt sich das Verhältnis von Musik und Raum überhaupt verstehen?

Bühne mit Flügel im Collegium Leoninum
Aus der Orgel ertönen Akkorde und ihr langer Widerhall vermittelt einen akustischen Eindruck der Kirchenarchitektur. Es ist ein kalter Innenraum mit hohen, gewölbten Decken und Säulenwänden aus Stein. Die Musik erfüllt den Raum und das Sakrale ergreift die Musik. Die Melodien verlieren im Hall ihre Kontur und verschmelzen mit dem Raum zu einem Gesamtklang. Sie schwellen an und verflüchtigen sich mit dem Schlusston in andächtiger Stille.
Konzerterlebnisse sind immer schon Raumerfahrungen. Seit jeher bestimmt die Architektur des Aufführungsortes die Wahrnehmung des Dargebotenen. Räume ergreifen die Sinne und werden zum ästhetischen Medium. Und das ganz unabhängig davon, ob ein Konzert in einem Gebäude oder unter freiem Himmel stattfindet. Denn ‚Raum‘ kann sich auf mehr beziehen als nur ein geschlossenes Bauwerk.
Ein Raum entsteht im Verhältnis zwischen Individuen und ihrer Umgebung. Der Raumbegriff berührt also die gesamte Konzertarchitektur: die Anordnung der Musiker*innen und Instrumente zueinander, der Zuschauer*innen zur Bühne sowie den durch Medien- und Verstärkertechnologie entstehenden Beschallungsradius. Für die Dauer einer musikalischen Performance bildet das Publikum eine raumakustische Gemeinschaft.
Auch sind Veranstaltungen temporäre Kulturräume und einige Konzertsäle sogenannte Traditionshäuser. Viele als Veranstaltungsorte geplante Bauwerke verfügen über eine lange Kulturhistorie, wodurch auch Mythen entstehen: Ein besonderer Raumklang, ein geschichtsträchtiges Ambiente, eine spezielle Atmosphäre – all das weckt hohe Erwartungen.
Physikalisch gesehen geht es bei der Akustik von Räumen vor allem um Schallreflexionen. Zum einen gibt es die Nachhallzeiten, die entstehen, wenn Schallwellen von Wänden zurückgeworfen werden. Außerdem verstärkt ein bestimmtes Material bestimmte Tonbereiche und absorbiert andere. Das kennt man aus dem Alltag: Ein mit dicken Teppichen ausgelegter Hotelflur klingt dumpf, denn er schluckt die hohen Frequenzen. Ein gefliestes Badezimmer wiederum klingt grell, denn die hohen Töne werden verstärkt. Die Bautechnik nutzt dieses Verhältnis der widerhallenden Frequenzen, um die Akustik eines Raumes entsprechend seiner Funktion zu gestalten. Wird es auf ein ausgewogenes Level gebracht, spricht man gern von einem „guten Raum“.
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Mehr InformationenPeter Materna und Olga Reznichenko live in der Basilika des Bonner Münsters
Eine kurze Kulturgeschichte der Raumakustik
Natürlich bestimmt die Bauphysik allein nicht die gesamte Konzerterfahrung. Hörgewohnheiten, Psychoakustik und Musikästhetik spielen ebenfalls eine Rolle. Manchmal scheint es sogar, als hätten bestimmte Musikstile eine räumliche Entsprechung, einen speziellen Ort, an dem sie auffallend gut funktionieren. Der Techno in der Fabrikhalle oder der Rock im Stadion scheinen aufeinander abgestimmt. Das gilt natürlich auch für das Opernhaus oder den Jazzclub – sie bieten der Musik einen geeigneten Raum.
Eine Architekturgeschichte der Bauwerke für Musik hängt daher mit der Kulturgeschichte der Raumakustik zusammen. Und diese reicht bis in die Antike zurück. Bereits dort sind Bauwerke konstruiert worden, deren Grundstruktur bis heute viele Theater- und Musikhäuser prägt.
Als die Architekten der Rennaissance die antike Baulehre wiederentdecken, führt der aus Fulda stammende Universalgelehrte Athanasius Kircher akribische Feldstudien zur Klangcharakteristik größerer Kirchen durch. Er schafft es, die Nachhallzeit so zu beeinflussen, dass sich eine einzige Singstimme zu einer ganzen Klangwand auftürmt – ein Umstand, der maßgeblich die Kompositionen der gregorianischen Chöre prägt.
Im Zuge der Reformation werden Kirchen dann eher auf die Sprachverständlichkeit der Prediger ausgerichtet. Die aus dem Protestantismus resultierende Machtverschiebung hat demnach auch eine raumakustische Reformation zur Folge. Nämlich eine Architektur, die die evangelische Gottesdienstordnung nicht nur symbolisiert, sondern auch funktionalisiert.
Die präzisere Akustik beeinflusst schließlich auch die Musik und so lassen sich die klanglichen Entwicklungen der darauffolgenden Musikepochen nachvollziehen. Bachs Chorwerke sind von häufigeren Tempi- und Harmoniewechseln gekennzeichnet, was sich auf die kurze Nachhallzeit der Thomaskirche in Leipzig zurückführen lässt, in der Bach selbst Kantor war.

Tomy Brautschek
ist Medien- und Kulturwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hier hat er im Forschungsschwerpunkt Sound Studies mit der Arbeit „Studio Culture: Raum- und Klangordnungen des Tonstudios“ promoviert, die 2023 in der Reihe „Acoustic Studies Düsseldorf“ bei dup/De Gruyter erschienen ist.
Denkt man an Wagner und das Festspielhaus in Bayreuth, lassen sich noch andere Punkte einer Architekturgeschichte der Musik aufzählen. Entscheidend für ein valides Wissen über das Verhalten von Schallwellen in Räumen aber ist die Begründung der Raumakustik. Erst durch die Berechnungen von Wallace Clement Sabine in den 1910er Jahren wird aus rein intuitiven Kenntnissen eine Wissenschaft.
Obwohl sich seither die Bau- und Raumakustik von Gebäuden qualitativ verbessert, scheint eine akustische Faszination an Kirchen als Konzertstätten geblieben. Aber für welche Musik eignet sich ein Kirchenraum überhaupt und wie lässt sich diese Form der kulturellen Zweckentfremdung verstehen?
Der lange Widerhall in Kirchen ist vor allem für perkussive Musik nicht immer von Vorteil. Hier werden Schallimpulse produziert, die meist eine hohe Energie besitzen. Sie sind deshalb besonders laut. Kommt es bei einem Schlagzeugspiel etwa zu schnelleren Trommelsequenzen, führt dies meist zu einem undifferenzierten Rauschen: dem umgangssprachlichen ‚Soundbrei‘. Die Wahrscheinlichkeit für diesen Effekt steigt auch mit zunehmender Ensemblegröße, Virtuosität oder medientechnischer Verstärkung.
Tragende Musik hingegen, wie man es eben aus der Gregorianik oder von Orgelmusik kennt, wird von dem großen Raumanteil unterstützt. Sie wirkt dadurch erhabener und offener. Können Instrumentalist* innen auf den langen Widerhall reagieren, entsteht ein ästhetischer Mehrwert und der Raum tritt in ein produktives Resonanzverhältnis mit der Musik.
Das Programm des Jazzfest Bonn reflektiert diese Erkenntnisse bereits. Soloperformances wie von Hubert Huss oder kleinere Besetzungen wie Jasper van’t Hof & Peter Materna und das Lisa Wulff Trio werden mit dem alten Kirchenraum des Collegium Leoninum hervorragend harmonieren. Ebenso funktionieren eher zurückhaltende Werke, wie man es von Richard Galliano im Bonner Münster erwarten darf.
Zur Atmosphäre des heiligen Raums
Doch beeinflusst auch die Raumatmosphäre das Konzerterlebnis. Nach Jürgen Hasse, einem deutschen Geographen und Stadtforscher, besitzen Kirchen eine „auratische Präsenz“, die so stimmungsmächtig wirkt, „dass sie gar nicht mehr aus der Perspektive emotionaler Distanz […] wahrgenommen werden kann.“
Und diese heilige Stimmung wirkt nicht nur beim Gottesdienst. An Bedeutung gewinnt in dem Zusammenhang der Begriff der „Transzendenzerwartung“, den der Philosoph Gernot Böhme vorschlägt. Dem Betreten einer Kirche geht ihm zufolge die Annahme voraus, eine die alltägliche Wirklichkeit überschreitende Erfahrung zu machen.
Kirchenarchitekturen unterstützen also erhabene Gefühle. Sie machen empfindsam. Die religiöse Atmosphäre sensibilisiert die Sinne, sie werden wortwörtlich in Stimmung gebracht. Böhme spricht von einer „Rückgewinnung des Auratischen in der modernen Kunst“, das laut Walter Benjamin im Zeitalter der technischen Reproduktion anderen medialen Erfahrungsmustern gewichen ist.
Und gerade für den Jazz trifft das zu. Ist die Tonaufnahme doch wichtig für die Aneignung verschiedener Spielstile gewesen. So hat der Musikwissenschaftler Mark Katz nachgewiesen, dass Jazzmusiker* innen Mitte der 1920er Jahre die Aufnahmen ihrer Kollegen*innen studiert und sich dadurch die unterschiedlichen Spielweisen des Jazz verbreitet haben.

Konzerte im Bonner Münster oder im Collegium Leoninum verleihen den Werken eine Strahlkraft, die eine Medienmaschine eben nicht reproduzieren kann. Die Architektur und die Akustik erschaffen ein musikalisches Ambiente, das über andere Raumerfahrungen deutlich hinausgeht. Wundervolle Voraussetzungen also für den Organisten Franz Danksagmüller, der am 28. April 2024 ebenfalls in der Münsterbasilika zu hören sein wird.