So schön bunt
Von Ralf Dombrowski
Musik ist ein Rätsel. Niemand weiß, warum es sie gibt und wofür man sie braucht. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt sich der Journalist Ralf Dombrowski mit dem Widerspruch, über etwas zu schreiben, was sich der Beschreibung und, wie der Jazz, gerne auch der Regelhaftigkeit entzieht. Da hilft ein Blick in die Geschichte des Hörens und Bewertens.

Jazz ist eigentlich ein Missverständnis.
Die einen wollen Musik machen, mit der sie sich bestmöglich ausdrücken können. Die anderen wollen unterhalten werden. Kunstschaffen mit der Aura der Innovation trifft auf Hörkonsum mit bestenfalls kleinem Überraschungsfenster für Abweichungen von der Gewohnheit. Das ist vereinfacht, natürlich. Im Kleinen gibt es Abweichungen in Richtung gegenseitiger Toleranz. Verstehen ist möglich, aber nicht üblich. Denn es setzt kommunikative Bereitschaft voraus, die Singularität der anderen anzuerkennen.
Es geht um die Gleichwertigkeit des Besonderen im allgemeinen Ganzen. Um Kultur als Gleichzeitigkeit der Unterschiede, die nicht bedrohlich, sondern anregend, inspirierend verstanden werden. Weniger ich im wir. Weniger Sicherheit, Vorhersagbarkeit, Eindeutigkeit. Damit hört man sich ins Risiko.
Bremsende Mythen
Jazz ist auch die Musik der Vorbehalte. Das hängt mit seiner Mythengeschichte zusammen. Am Anfang war die Welt strukturell gesehen relativ überschaubar. Jazz hatte seinen Platz im segregierten Amerika. Er war rassistisch markiert als die Musik der anderen, die nicht zu jener kolonialen Klasse gehörten, welche die kulturellen Werte dominierte. Er gehörte zu den Gegenwelten des Puritanismus, dem Nachtleben, zu Riten und Bräuchen der Ära der Sklaverei, veröffentlicht auf „Race Records“, etwas jedenfalls, das die ehrbaren weißen Bürger*innen nur mit spitzen Fingern oder Lust an der Exotik anzufassen wagten. Allerdings war er erfolgreich, fand den Weg ins Entertainment, in Radio und Film, in die Truppenbetreuung. Und in die Konzerthäuser. Das war ein Zeichen für einen Strukturwandel in der Musik. Dienstleistung wurde zu Kunst, die Swing-Spieler*innen zu Bebop-Solist*innen. Jazz dockte an die klassische Vorstellung der Romantik an, der zufolge nur Großes erreichte, wer sich als aus sich selbst heraus schaffendes Genie fortwährend neu erfand.
Mehrere Mythen kreuzten sich folgenreich. Zum Innovationszwang des Genialischen kam die protestantische Leistungsethik (schneller, höher, weiter!), außerdem ein hochkultureller Minderwertigkeitskomplex (Jazz at the Philharmonic), der wiederum bald von politischem Sendungsbewusstsein (Bürgerrechtsbewegung) und dem Bedürfnis nach historisierender Authentizität (Black Power) ergänzt oder auch abgelöst wurde. Die Lust an der Musik wurde an neu entstehende, erblühende Disziplinen weitergegeben, an Pop und Soul, an Rock, Folk und andere populäre, merkantil aussichtsreiche Sparten.
Die Jazz-Blase
Das Resultat für die Hörenden war anstrengend. Denn die Musik wurde zur Kunst. Und Konsument*innen wurden zu Kompliz*innen. Das ging gut, solange sich Bedürfnisse noch überschnitten. Der Jazz kreierte mit den Clubs neue Räume des gegenseitigen Einverständnisses und der beidseitigen Begutachtung.
„Jazzhören wurde selbst zur Kunst“
Während die einen sich in rasanter Geschwindigkeit gestalterisch entwickelten, gingen die anderen dabei zunehmend in der Rolle bewundernder Andächtiger auf. Jazzhören wurde selbst zur Kunst und mit dem Experten entstand ein passender Typus des ästhetischen Verschwörers, dessen Zugehörigkeit zum Kreis der Initiierten sich über Insiderwissen und Leidensfähigkeit beweisen ließ.
Das ursprünglich Umarmende einer Musik, die sich vor allem um den Ausdruck bemühte und dafür tendenziell alles zuließ, was ihn unterstützte, verengte sich auf der Ebene der Rezeption zu einem System des Bescheidwissens, das Externe und Neulinge eher ausschloss, als sie integrierte. Im Umkehrschluss befeuerte das Expertentum wiederum die Musiker*innen, die sich in ihrem experimentellen Drang bestätigt sahen und sich immer weiter wagten, bis hin zur weitgehenden Auflösung formaler Kriterien der Gestaltung. Jazzhören wurde zur Arbeit innerhalb einer künstlerischen Blase. Das kommunikative Spiel zwischen Bühne und Publikum produzierte nicht mehr Neugier, sondern Angst. Das ist mir zu hoch. Das versteht ja keiner mehr. Die spielen ja alle free.

Ralf Dombrowski
Ralf Dombrowski, Journalist und Fotograf aus München, schreibt und berichtet seit 1994 regelmäßig über Jazz, Musik und Kultur für zahlreiche Medien wie die Süddeutsche Zeitung, Jazz thing, das Münchner Feuilleton, den Bayerischen Rundfunk und den WDR.
Die Wiederentdeckung der Neugier
Schwellenängste dominierten von da an das Verständnis. Man wollte sich nicht blamieren. Man wollte nicht zu den superschlauen Oberlehrer*innen gehören, die andere mit Partikularwissen langweilten. Ein Jazz, den man erst lange erklären musste, um ihn vielleicht zu verstehen, war unsexy. Doch dann änderte sich der Diskurs. Zum einen wandten sich die Musiker*innen nach der Auflösung des strengen Systems in Free und Avantgarde wieder der Aufforstung des klanglichen Kahlschlags zu. Sie integrierten Weltmusik, Kammermusik, Rock, Elektronik in ihre Kosmen und schufen so neue Hörangebote für das Publikum.
Die heranwachsende Jazzpädagogik entschlüsselte außerdem die Mysterien der Personalstile und machte sie vielen Studierenden zugänglich. Die Vermittlung, vor allem in Europa, professionalisierte sich und aus den Liebhaber- und Vereinsstrukturen wurden oft öffentlich geförderte Veranstaltungsorte. Neue Präsentationsformen wie Festivals ermöglichten programmatische Vielfalt und darüber hinaus die Ansprache eines größeren Publikums.
Vor allem aber änderten sich die Hörbedürfnisse der Menschen. Das hing mit einem umfassenden Strukturwandel der Öffentlichkeit zusammen. In der Zeit der industriekapitalistischen Moderne konnte Jazz noch provozieren. Denn die vorherrschende Haltung war konservativ. Es ging darum, einen gesetzten Standard zu erreichen und zu erhalten. Mein Fernseher, mein Auto, mein Haus. Die Infragestellung einer Struktur war daher ein Angriff auf deren Bedeutung. Free war gleich Freak, der Wahnsinn der Ablehnung. Mit der Sättigung der Märkte kippte das System. Ein zweiter Fernseher war kein Glücksversprechen mehr, ein Leben ohne Standard hingegen schon.
„Mit der Idee der Selbstverwirklichung hielt das Kreative, das Künstlerische Einzug in der Bürgerlichkeit“
Mit der Idee der Selbstverwirklichung hielt das Kreative, das Künstlerische Einzug in die Bürgerlichkeit. Neugier und Ausprobieren hatten wieder einen Sinn, solange es der Selbstentfaltung diente. Jetzt konnte man auch einfach Jazz nur hören. Die Segnung der Expert*innen wurde überflüssig, das persönliche Empfinden rückte in den Mittelpunkt.
Die große Freiheit
Das machte es für den Jazz nicht einfacher. Auf der einen Seite war alles erlaubt, auf der anderen wusste niemand mehr, was wem gefiel.
„Wenn alles gleichwertig ist, wie erkenne ich, was auch wichtig ist? Womit ich meine Zeit verbringen soll?“
Mit den Achtzigerjahren startete die große Zeit der experimentellen Festivals, gleichzeitig rutschte der Marktanteil des Jazz immer weiter Richtung Bedeutungslosigkeit. Wahrnehmung globalisierte sich, aber zugleich entkörperte sich die künstlerische Erfahrung und wurde zu Datensätzen. Die potentielle Chance einer Gesellschaft der Singularitäten mit ihrer Gleichzeitigkeit der Besonderheiten mündete für die spätmoderne Welt in eine Freiheit, die neue Unsicherheiten entstehen lässt. Denn wenn alles gleich wertig ist, wie erkenne ich, was auch wichtig ist? Womit ich meine Zeit verbringen soll? Was verdient Aufmerksamkeit, Anerkennung und warum? Und wo stehe ich in dieser Ambivalenz der Ansprüche?
Wahrscheinlich mittendrin. Populistische Lösungsvorschläge des pluralistischen Dilemmas führen in der Regel zur Vereindeutigung der Welt. Das Entweder- Oder aber verneint die Vielfalt. Versteht man hingegen „Jazz im Sinn eines Verfahrens und nicht im Sinn eines Genres“ (Christopher Dell), gibt es Auswege aus einer binären Vorstellung von Kreativität und Weltverständnis. Und das betrifft nicht nur die, die Musik machen, sondern auch alle, die sie hören, veranstalten, promoten und verbreiten.
Ein bisschen Risiko
Wollte man einen Leitfaden für die Option spätmodernen Hörgenusses schreiben, könnte an erster Stelle die Fähigkeit stehen, Unterschiede auszuhalten. Was nicht meiner Gewohnheit entspricht, muss nicht von vornherein schlecht sein. Das ist eine Binsenweisheit, aber eine, an die sich weiteres anschließt. Denn an nächster Stelle könnte der Ratschlag stehen, nicht vorbeugend zu werten. Das Gehirn macht es sich zwar gerne leicht und freut sich, wenn die permanent getroffenen Vorhersagen seiner Wahrnehmung auch eintreffen. Aber es stagniert, wenn es seine Urteile nicht auch modifizieren muss. Wer schon weiß, wie es klingt, wird nie erfahren, wie es sich noch und womöglich besser, passender, pointierter anhören könnte.
„Die Offenheit des musikalischen Systems Jazz ist eine Chance, an Lebenswelten anderer teilhaben zu dürfen. Was für ein Glück!“
Jazzhören kann daher ein Prozess mit unerwartetem Ausgang sein. Mehr noch, denn es kann auch an Assoziationen anknüpfen, derer man sich nicht oder nur wenig bewusst ist. Da geht es um Melodien der eigenen Vergangenheit, kollektives und kulturelles Erinnern, um Mehrfachkodierungen des akustischen Eindrucks mit Emotionen und Sinneseindrücken, das ganze Paket der bislang nur rudimentär erforschten Zusammenhänge von Musik und Gefühl. Und hier schließt sich der Bogen zum Risiko als Hörmaxime. Die Offenheit des musikalischen Systems Jazz ist anstrengend, weil oft unvorhersehbar. Sie lässt aber als improvisierendes Verfahren mehr zu als viele andere Klangformen, die rituell, kulturell, historisch geprägt und festgelegt sind. Es ist eine Chance, an Lebenswelten anderer teilhaben zu dürfen. Zu hören, was sie fühlen, zu ahnen, was sie denken. Was für ein Glück!
Lektüre zum Hintergrund
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten
Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt
Lisa Feldman Barrett: Wie Gefühle entstehen