The Shape Of Jazz To Come

von Maxi Broecking

Zum 15. Jubiläum präsentiert das Jazzfest Bonn in diesem Jahr eine Reihe talentierter Nachwuchsmusiker*innen und Neuentdeckungen, die ihre aktuellen und spannenden Projekte vorstellen. Darunter die dänische Sängerin Mia Knop Jacobsen und die Schweizer Sängerin Fiona Grond, aber auch die US amerikanische, afro-karibische Sängerin Sera Kalo, die russische Pianistin und Komponistin Olga Reznichenko und die slowenische Sängerin, Texterin und Komponistin Mirna Bogdanović. Als wichtige Nachwuchs-Schmiede des jungen deutschen Jazz gilt außerdem das Bundesjazzorchester, das unter der Leitung des Saxophonisten Niels Klein mit neuen Ästhetiken experimentiert.

von links: Sera Kalo, Olga Reznichenko und Mirna Bogdanović

Das Ausloten von Improvisationsräumen

Doch was gilt als „Nachwuchs“ oder „Newcomer“, ist es ausschließlich das erste Album oder eine bestimmte Altersgrenze? Ist nicht, nach dem ersten Beifall für das Debüt, das zweite Album der Prüfstein, ob eine Karriere abhebt? Das Jazzfest Bonn erweitert den Begriff und präsentiert in diesem Jahr Musikerinnen, die mit ihrem ersten oder zweiten Album an der Schwelle stehen, um die Zukunft des Jazz in Deutschland zu gestalten oder die sich, wie Sera Kalo, ganz neu im Jazz positionieren. Es gibt viel zu entdecken und die Auswahl zeigt, wie divers Kompositionspraktiken und das Ausloten von Improvisationsräumen gedacht und umgesetzt werden. Im Folgenden stellen wir eine Auswahl vor.

Olga Reznichenko: Sezierte Rhythmen

Gespannt wird der Auftritt der russischen Jazzpianistin Olga Reznichenko erwartet, die beim Jazzfest Bonn ihr zweites, gerade erschienenes, Album Rhythm Dissection vorstellen wird, das auf ihre Vorliebe für das „Sezieren“ von Rhythmen verweist. Dekonstruktion, Verschiebung und die Lust an weiträumigen Klangcollagen und -architekturen machen die Konzerte des Olga Reznichenko Trios zu wirkmächtigen Ereignissen, changierend zwischen Punk und Jazz, immer analog, die Moderne dicht an die Tradition geschmiegt. Seit letztem Jahr ist Reznichenko auch Dozentin am Jazzinstitut Berlin und spielt in verschiedenen Formationen in den Berliner Clubs und Offspaces. Inspiriert wird sie zu ihren Kompositionen durch Improvisationen am heimischen Klavier in ihrer Leipziger Wohnung, wo sie seit 2012 lebt. Aus den Aufnahmen der Melodien und Strukturexperimente entstehen weiträumige Stücke voller musikalischer und literarischer Zitate.

Reznichenko, geboren 1989 in der südrussischen Stadt Taganrog an der Mündungsbucht des Don am Asowschen Meer, kam von der Klassik über Punkrock zum Jazz. In ihrem teilweise körperlich an ihre Grenzen gehenden, perkussiven Spiel, wenn sie die Tasten rhythmisch an den Harmonien entlangschreddern lässt und sich in dichtem, interaktivem Austausch mit ihrem Trio eine spannungsgeladene Energie aufbaut, öffnet sie in fein gesponnenen Binnenstrukturen immer wieder poetisch-verträumte melodische Räume.

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Olga Reznichenko Trio live at Traumton Studios, Berlin: „Salty Drunk Fish“

Mit acht Jahren begann Reznichenko mit klassischem Klavierunterricht. Bei einem Schulkonzert, in dem sich verschiedene Bands vorstellten, hörte sie zum ersten Mal Jazz. Sie erinnert sich: „Sie spielten The Girl from Ipanema von Antônio Carlos Jobim, was ich damals nicht wusste. Nur, dass es die Musik ist, die ich spielen möchte. Es war die Energie, die darin spürbar war.“ Ihre erste Band in Russland spielte Rock-Cover, Deep Purple und die Animals. Ihre Eltern waren gegen eine Jazzausbildung und sie begann heimlich, etwa ein Jahr parallel zu ihrem Studium des klassischen Klaviers, 2008 ein zusätzliches Studium am eineinhalb Stunden entfernten S.W. Rachmaninow Konservatorium in Rostow. Das Geld für die Zugtickets verdiente sie sich als Begleiterin von Posaunenkursen.

Fragmente verborgener Erinnerungen

Vier Jahre später ging sie nach Leipzig, um bei den Pianisten Richie Beirach und Michael Wollny zu studieren und gründete noch während des Studiums 2014 ihr erstes Trio. Das Duo-Album Sophia & Olga, mit der Sängerin Sophia Bicking, erschien 2017, und 2022 veröffentlichte sie mit ihrem Trio die Aufnahme Somnambule. Dafür bat sie einen Freund, eine Erzählung zu schreiben, die von einem Traum in acht Kapiteln handelte, und entwickelte dazu die Musik. Schlafwandelnd, traumgebunden. Zu ihrem neuen Album sagt sie, das Erkunden verschiedener Metren habe schon immer im Zentrum ihrer Kompositions- und Spielpraxis gestanden. Als Collage aus Fragmenten einer verborgenen Erinnerung, als ihre eigene Vermessung der Zeit. 

Olga Reznichenko spielt mit ihrem Trio am 30. April im Doppelkonzert mit LiV Wafield  um 19 Uhr im Pantheon. 

Mirna Bogdanović: Die Stimme als Instrument

Etwa im gleichen Alter wie Reznichenko ist die 1990 in Sarajewo geborene slowenisch-bosnische Sängerin und Komponistin Mirna Bogdanović. Als sie zwei Jahre alt war, floh die Familie vor dem Bosnienkrieg in das slowenische Maribor nahe der österreichischen Grenze. Nach einem klassischen Klavierstudium an der Musikakademie in Ljubljana studierte sie ab 2010 Jazzgesang am Konservatorium Klagenfurt. So habe sie zuerst zwei Sachen gleichzeitig studiert und nebenbei in einer Rockband gesungen. Mit 19 Jahren habe die New Yorker New School einen Sommer-Workshop in Italien angeboten, da hörte sie von Judy Niemack, die in Berlin unterrichtete, wo sie seit 2012 lebt.

Am Jazzinstitut Berlin studierte sie bei Niemack, Kurt Rosenwinkel und Greg Cohen und sang im Bundesjazzorchester. 2015 gewann sie den „Downbeat Student Award“ und gründete die Band The Good Old Ones und 2019 ihre Mirna Bogdanović Group. Ein Stipendium des Landes Berlin ermöglichte ihr 2018/19, für ihr Debütalbum Confrontation zu komponieren, das 2020 erschien und 2021 mit dem Deutschen Jazzpreis als „Debütalbum des Jahres“ ausgezeichnet wurde. 2023 veröffentlichte sie dann ihr aktuelles Album Awake, das sie gemeinsam mit ihrem Quintett, dem Rothko String Quartet und sich selbst an der Ukulele aufnahm.

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Mirna Bogdanović – „Moving „On, live from Hansa Studios, Berlin

Bogdanović sieht ihre Stimme als Instrument und Teil der Band. In ihren Kompositionen merkt sie Einflüsse von Chopin, dessen Musik sie oft gespielt habe. Zu der Zusammenarbeit mit dem Rothko String Quartet kam es durch einen Musik-Podcast. „Ich hatte gerade mein erstes Album veröffentlicht und hörte in diesem Podcast den Geiger Joosten Ellée, der darüber sprach, wie sehr es ihm gefällt und falls ich gerade zuhören würde, sollte ich mich doch melden. Das war so cool! Ich wollte schon immer mit einem Streichquartett arbeiten. Es klingt magisch.“

Bei den Aufnahmesessions in den Berliner Hansa Studios dabei war auch der Londoner Produzent und Multiinstrumentalist Chris Hyson, der auch schon mit Peaches und Snowpoet arbeitete. Mirna Bogdanović: „Ich habe Chris Hyson kontaktiert, weil ich ein großer Fan seiner Musik bin und jemanden finden wollte, der auch Jazzmusiker ist, der eine ähnliche Ästhetik hat und gut mit Musiksoftware arbeiten kann, um das Sounddesign zu gestalten.“

Nach der Aufnahme verbrachte Mirna Bogdanović zehn Tage mit Hyson in London am Mischpult, um ihre Gesangsharmonien mit Synthesizer-Texturen, Streichquartett und Effekten zu einem Gesamtkunstwerk zu schichten.

Durch die Förderung der Initiative Musik habe sie sich die Produktion leisten können, dazu auch Promotion und Musikvideos. „Das wäre sonst nicht möglich gewesen“. Sie spreche zwar Deutsch, aber sei oft ziemlich faul. „Dann zwinge ich alle meine Freunde, Englisch zu reden“, erklärt sie amüsiert. Mit ihren Texten fühle sie sich manchmal unsicher, „da ich ja keine Schriftstellerin bin und Englisch auch nicht meine Muttersprache ist. Deshalb treffe ich dann eine Freundin aus England und sie liest es auch noch einmal.“

Kammermusikalische Formstrukturen

Eigentlich habe sie sich aus Spaß eine Ukulele gekauft, ein bisschen die Sounds darauf ausprobiert und dazu Musik geschrieben. „Mir gefällt, dass ich das Instrument nicht professionell spielen kann“, so Bogdanović, „denn so habe ich diese teilweise seltsamen und coolen Sounds entdeckt.“ Zuerst habe sie die Ukulele nur zum Komponieren gespielt, aber bei ihrem Auftritt in Bonn wird sie sich auch auf der Bühne damit begleiten. Zwischen kammermusikalischen Formstrukturen und elektronischen Soundschnipseln, spielerisch und ausdrucksvoll.

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Maxi Broecking

ist als Journalistin für die DIE ZEIT, taz, Jazz thing, Fono Forum, Neue Zeitschrift für Musik, SWR und ByteFM sowie THE:ARTIST zu den Themen Jazz, Improvisierte Musik und Zeitgenössische Kunst tätig

Sera Kalo: Afrofuturistische Klanglandschaften

Die afro-karibische Sängerin Sera Kalo wurde in den USA geboren und wuchs in Connecticut in einem karibischen Haushalt auf, in dem ihre Mutter Gospels und Motown Klassiker sang und ihr Vater seine Reggae- und Calypso-Schallplatten auflegte. In der Schule hörte sie Alternative Rock und Hip-Hop. Mit acht Jahren verliebte sie sich in die Musik von Mozart und Chopin und hatte den Wunsch, klassische Pianistin zu werden. Das änderte sich, als sie die Rapperin Monica Denise Arnold mit ihrer Cover-Version von Angel of Mine hörte und vor allem At Last, gesungen von der Jazzsängerin Etta James. Doch zuerst spielte Sera Kalo in verschiedenen Bands Alt- und Tenorsaxophon, Gitarre und klassisches Klavier. Inspiriert durch Carmen McRae, Sarah Vaughan und Nancy Wilson, aber auch Lauryn Hill und India Arie, zog sie nach New York und tauchte in den Jazz ein. Sie selbst, seit 2013 in Berlin lebend, nennt ihren heutigen Stil „Progressive Soul“ mit Jazzeinflüssen, aber auch inspiriert von weiteren musikalischen Genres und kammermusikalischen elektronischen Sounds. Zu hören ist dies auf ihren 2023 erschienenen Alben Serendipity und eXante. Letzteres nahm sie mit Mitgliedern des The String Orchestra und ihrem Septett auf und ließ es von dem Jazzbassisten Petter Eldh produzieren. Als afrofuturistische Klanglandschaft, unterstützt von der sich zwischen Neuer Musik und Performance bewegenden, visionären Schlagzeugerin Philo Tsoungui und der Cellistin Samira Aly.

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Stylecouncil – eine Bigband als Talentscout

Das Bundesjazzorchester (BuJazzO) gilt als Talentschmiede des deutschen Nachwuchsjazz. 1987 als Jugendjazzorchester gegründet, präsentiert es Musiker*innen bis zum Höchstalter von 24 Jahren. Hier spielten einst Till Brönner, Roger Cicero, Michael Wollny oder Christian Lillinger in ihren Anfängen. Wie auch Mirna Bogdanović, die in diesem Jahr mit ihrer eigenen Formation beim Jazzfest Bonn zu hören ist. Unter der Leitung des 1978 geborenen Saxophonisten, Arrangeurs und Komponisten Niels Klein werden die jungen Musiker*innen sieben Stücke von Komponist*innen aufführen, die den vierten Nachwuchswettbewerb des Orchesters gewonnen haben. Im Bigband-Format wird dabei die stilistische Vielfalt des Jazz präsentiert, von Swing und Modern Jazz bis hin zu freieren Formen.

Jazzfest Bonn Bundesjazzorchester
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