Wie klingt der Jazz der Zukunft?
von Bettina Bohle
Bettina Bohle leitet seit März 2024 das Jazzinstitut Darmstadt. Für zettbe: befragt sie die Gegenwart durch die Brille der Zukunft.
Wie klingt die Zukunft des Jazz? Eine spannende, große und eigentlich unbeantwortbare Frage. Denn wohin die Reise geht, weiß ja noch niemand so genau. Es gibt Menschen, die tiefer drinstecken in den Szene-Eingeweiden und daher manches schon kennen, was andere erst später zu Gesicht bekommen –Veranstalter*innen, Festivalmacher*innen, Verbandsleute und natürlich die Musiker*innen selbst. Aber welche Faktoren des Lebens, der Gesellschaft, der Strukturen sich wie auf ästhetische Diskurse und Praktiken auswirken, ist eine Frage, die keine Antwort hat – denn unzählige Menschen und Umstände werden mitwirken. Frei nach Aristoteles: Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend. So viele top ausgebildete Menschen sind in Deutschland in der Jazz- und Improvisationsszene unterwegs, so viele internationale Menschen arbeiten und musizieren hierzulande miteinander; die Strukturen sind zwar noch lange nicht ausreichend, aber sie werden immer besser – da kann doch nur etwas Gutes bei herauskommen!
„Erst, wenn die Zukunft des Jazz Gegenwart ist, werden wir wissen, wie sie klingt und ob die Aussagen, die wir jetzt darüber treffen, stimmen. Unzweifelhaft ist: Es bleibt spannend.“
Gerade bei Live-Erlebnissen ist die Musik, die unter „Jazz“ läuft, besonders stark und in Streaming- und Post-Corona- Zeiten wird dieser Bereich immer wichtiger. Mag man den Menschen auch nicht vollständig zustimmen, die sagen, dass es „Jazz“ gar nicht auf Platten gibt, weil die Interaktion, der Raum, der unmittelbare Austausch, die Atmosphäre integral dazugehören – am Ende bleibt unzweifelhaft dieser Moment unvergleichlich, wenn ein paar Meter entfernt auf der Bühne sichtbar ein Lächeln über die Gesichter der Musiker*innen huscht, ein Kopfnicken ausgetauscht wird, im gemeinsamen Erleben des musikalischen Geschehens, dessen Teil mensch als Publikum wird. Vielleicht lächelt da auch jemand, weil gerade etwas nicht ganz so funktioniert hat wie geprobt; dieses Miterleben des Entstehens der Musik, die zwar in mehr oder weniger großen Teilen komponiert ist, die aber doch auch immer konstitutiv weiterentwickelbar bleiben will und bleibt, ist auch als Zuhörer*in unglaublich befriedigend. Und es sollte nie unterschätzt werden, welchen Anteil das Publikum für die Atmosphäre hat, in der diese Live-Musik entsteht. Immer wieder berichten mir Musiker*innen davon, wie viel sie davon mitbekommen, was vor der Bühne passiert.
Zukunft – eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart
Die Frage nach der Zukunft von etwas ist eigentlich eine Frage nach der eigenen Gegenwart und deren Bewertung. Bewegungen wie der Afrofuturismus von Sun Ra und – neuer – von Janelle Monáe oder auch Sera Kalo entwerfen zwar Zukunftsvisionen, stellen aber eigentlich die Frage u.a. nach der Rolle von und dem Umgang mit Schwarzen Menschen und, im Fall von Monáe und Kalo, (Schwarzen) Frauen* in der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft.
Am wichtigsten vielleicht als Musiker*in, zumindest finde ich das als Zuhörende: Fragen, Zuhören, Gewissheiten aufgeben und sich immer wieder Hinauswagen in Unsicherheiten. Hier scheint mir aus einem Zulassen von Verletzlichkeit Spannendes zu entstehen – wie dies auch die Pianistin Julia Kadel mit ihrem Album Powerful Vulnerability in Erinnerung ruft. Oder die Bassistin Linda May Han Oh mit ihrem Projekt The Glass Hours, das entstanden ist, nachdem Oh inmitten der Coronapandemie Mutter geworden war.
Aus ästhetischer Verletzlichkeit und Sensibilität kann echte ästhetische Erfahrung entstehen. Ein solches Erlebnis kann für das Publikum auch (zunächst) Verstörung und Vor-den-Kopf-Stoßen bedeuten. Aber gerade etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen: Nicht alles, was wahrgenommen wird, gleich in bekannte Schubladen einzuordnen, kann es möglich machen, diese Schubladen auch einmal zu hinterfragen, neu zu denken und anders zu bauen.
„Etwas Unerwartetes, bislang Un-Erhörtes zu erleben, was sich nicht direkt eindeutig zuordnen lässt, birgt Chancen für Veränderungen.“
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Mehr InformationenPowerful Vulnerability (short film) – Julia Kadel Trio
Jazz im Sinne einer (improvisierenden) Musik, die einerseits atmosphärisch das Drumherum aufnimmt und verarbeitet, die anderseits aber auch ein Nebeneinander von verschiedenen Ideen ästhetisch möglich und auch greifbar macht, ist dafür prädestiniert und weist damit über sich hinaus – Zukunftsmusik im wahrsten Sinne des Wortes; wie sie auch das Bundesjazzorchester mit seinem gleichnamigen Programm aus Werken von Nachwuchskomponist*innen zu Gehör bringt. Dafür braucht es das Zulassen und Sich-Aussetzen auf beiden Seiten, bei Publikum wie Musiker*innen.
Aus ästhetischer Verletzlichkeit und Sensibilität kann echte ästhetische Erfahrung entstehen
Auf der Suche nach solchen Sensibilitäten und Durchlässigkeiten haben Musiker*innen sich auch immer wieder um neue Ausdrucksformen bemüht, wie es kürzlich wieder in der von Brad Pitt produzierten Wayne-Shorter-Dokumentation Zero Gravity nachzuerleben war. Hier wird erzählt, wie sich die Musiker des zweiten Miles Davis Quintetts selbst vorschrieben, „Anti-Musik“ zu spielen, um sich aus gewohnten Bahnen herauszubringen. Dass das Neue immer auch Bezüge zum Alten enthält, ist dabei nicht falsch, verkennt aber die Notwendigkeit, für jede Zeit immer wieder künstlerisch erlebbar zu machen, was gefühlt, gedacht, gemeint wird.
Die Zukunft des Jazz war auch Thema beim Jazzforum Darmstadt im September 2023. Viel wurde hier geredet über Genreverständnis und -abgrenzung, alte und neue Utopien, Herausforderungen für die Jazzszene und den Jazzbegriff – schön war aber auch, dass die Musik Teil von alledem war und Musiker*innen Redebeiträge, aber auch ihre musikalischen Beiträge zur Diskussion beisteuerten – hier ist mir vor allem Kirke Karjas Auftritt im Gewölbekeller des Jazzinstituts im Gedächtnis; wegen der spannenden Musik, aber auch, weil Schulkinder aus Darmstadt anwesend waren, die Kunstwerke zu einer unter einem Sun- Ra-Motto stattfindenden Ausstellung im Institut beigesteuert hatten und sich nun aktueller Musik aus diesem Genre aussetzten: ehrlich zuhörend, tuschelnd, auf den Stühlen rumrutschend, aber trotzdem aufmerksam und mittendrin.
Bettina Bohle
ist seit 2013 für verschiedene Jazz-Verbände aktiv (IG Jazz Berlin, BK Jazz, Deutsche Jazzunion), zuletzt leitete sie das Projekt „House of Jazz – Zentrum für Jazz und Improvisierte Musik” (AT). Zum Jazz kam die studierte Gräzistin, Musikwissenschaftlerin und Philosophin über selbst organisierte Hauskonzerte. Mehrere Jahre betrieb sie den Blog JAZZAffine samt zugehörigem Newsletter. Als freie Projektmanagerin hat sie die Initiative Musik beim Aufbau des Deutschen Jazzpreises unterstützt.
Bild: Lena-Ganssmann
In der Begegnung zwischen Musiker*innen und Publikum kann die Musik ihre Kraft entfalten
Als Publikum besteht meiner Meinung nach die Aufgabe darin, diese suchenden Bewegungen zuzulassen, sich mit auf die Reise zu begeben. Und gerade Festivals sind hier gefragt, Wagnisse zu programmieren, auch mal Unfertiges zu zeigen, Risiken einzugehen. Auch Präsentationsformate gilt es zu hinterfragen und darüber nachzudenken, wie die Musik in der Begegnung zwischen Musiker*innen und Publikum ihre Kraft entfalten kann und nah an die Menschen herankommt. So wird, denke ich, die Musik, der Jazz, die Kunst der Zukunft gemacht – nah am Menschen und mit der Möglichkeit, im (und den) Alltag zu erschüttern.
„Festivals sind gefragt, Wagnisse zu programmieren, auch mal Unfertiges zu zeigen, Risiken einzugehen.“
Die Forschung zu Revolutionen zeigt: Mut und Energie zu Veränderung entsteht auch daraus, dass Menschen merken, dass sie nicht allein sind in ihrem Denken, Fühlen und Meinen. Kultur- und Kunstveranstaltungen als gemeinsam Erlebtes, ja, gemeinsam Er-Atmetes, etwas quasi Spirituelles, können – da bin ich unbelehrbare Ästhetin – Orte solcher Erkenntnisse sein. Nicht umsonst waren Kunst und Spiritualität bzw. Religion in der griechischen Antike eng verbunden.
Julia Kadel spielt am Sonntag, den 21. April um 15h live beim Jazzfest Bonn im Beethoven Haus.
Ein „weiter so“ ist in der jetzigen Situation das eigentlich Riskante
Auch die ästhetische Erfahrung des Publikums wird doch erst möglich durch diese Sensibilität und Durchlässigkeit, ja Verwundbarkeit der Künstler*innen. Dadurch können wir selbst verwundbar werden und unser Sein befragen. Und das scheint angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart auch nötig: Klimakrise, immer mehr Ungleichheit in unserer eigentlich reichen Gesellschaft, Erstarken der faschistischen und rassistischen Kräfte. In ihrem gesellschaftlichen Engagement setzt sich Julia Kadel etwa mit dem Kollektiv „Queer Cheer“ – Teil der Festival-Meta-Bewegung „Future Bloom“ – für mehr Empowerment für diskriminierte Gruppen und Räume mit verschiedenen Perspektiven ein, die das Anderssein zulassen und ein Zeigen der eigenen Verletzlichkeit ermöglichen, die ja letztlich alle betrifft.
„Sängerin und Pianistin Cymin Samawatie beschwört im Stück Maa shodane nou be nou ein ‚neues Wir‘. Wie kann dies aussehen?“
Ein „weiter so“ ist in der jetzigen Situation das eigentlich Riskante; eine Zukunft scheint nur möglich, wenn alle, gerade aber eine weiße Mehrheitsgesellschaft mit ihren Privilegien sich und ihre Lebensweise befragt. Sängerin und Pianistin Cymin Samawatie beschwört in ihrem Duo mit Milian Vogel im Stück Maa shodane nou be nou ein „neues Wir“. Wie kann dies aussehen? Und: Ein Jazzkonzert als Ort einer solchen Befragung? Lassen Sie sich darauf ein und vielleicht hören Sie ja auch in einem der Konzerte, auf die Sie hier so gehen ,The Shape of Jazz to Come‘ und damit auch ein bisschen die Zukunft des Jazz – und Ihre eigene.
Cymin Samawatie spielt zusammen mit Milian Vogel am Mittwoch, den 24. April um 19h live beim Jazzfest Bonn im LVR-LandesMuseum.